Die heimliche Bestattung
Horst dozierte über griechische Kultur, Mythen und vor allem über Philosophen. Sokrates, Platon, Aristoteles und einige Grundzüge ihrer Theorien wurden mir während der Fahrt erklärt. Ich hoffte, mir zumindest einen Teil merken zu können, denn ich hatte inzwischen verstanden, dass er sich keineswegs damit zufrieden gab, mir Wissen kurzfristig zu vermitteln. Nein, er würde früher oder später erwarten, dass ich mich an seinen Vortrag erinnerte. Er war Lehrer aus Leidenschaft, das merkte ich immer wieder.
Endlich gelangten wir, nach einem holperigen, unwegsamen letzten Stück Straße, an unser Ziel. Horsts Familie und unser Gastgeber Rüdiger erwarteten uns schon. Da stand Susanne, klein und zierlich, fast mager und mit blonden kurzen Strubbelhaaren, auf hochhackigen Pumps im sandigen Boden des Hofes. Ihre schmalen Lippen waren rot geschminkt, ihre Mundwinkel hatten eine Tendenz nach unten. Sie streckte mir ihre fein manikürten Hände entgegen.
„Isa, wie schön, dass du mitgekommen bist. Horst braucht immer jemanden, der ihn unterstützt. Allein ist er so hilflos.“Aha? Ich hatte ihn zwar als chaotisch und kauzig erlebt, aber hilflos? „Schön, dass ich dabei sein darf“, antwortete ich, erwiderte ihren Händedruck und versteckte danach meine sehr kurzen Fingernägel hinter dem Rücken. Mein Blick fiel auf Horst, der eine Hand zur Faust geballt hatte. Die beiden fast erwachsenen Söhne, David und Lukas, waren das genaue Gegenteil ihrer Mutter. Beide waren sehr groß, kräftig und viel zu rund. In dem Alter sollte man doch durch Sport und andere Aktivitäten eher drahtig und schlank sein. Die Jungen sahen zu Boden, als sie mir die Hand gaben und hatten einen schlaffen, scheinbar leblosen Händedruck. Ihre Haut fühlte sich weich und kalt an. Der Gedanke an tote Fische schoss mir durch den Kopf.
„Horst, ist es nicht großartig, dass Isa nun Zucht und Ordnung in dein Leben bringen wird?“ Susanne war noch nicht bereit, dieses Thema fallen zu lassen. „Dafür ist sie genau die Richtige“, fuhr sie fort.
Eigentlich wollte ich wichtigere Dinge in sein Leben bringen als Zucht und Ordnung, aber ich mochte nicht schon in den ersten Minuten unseres Treffens mit seiner Schwester zusammenrasseln und hielt den Mund. Außerdem schien es mir inzwischen ziemlich aussichtslos, ihn Ordnung lehren zu wollen, egal, wer es versuchen würde. Von Zucht hielt ich sowieso nichts.
Die Hunde wurden aus dem Auto gelassen. Amalfi stolzierte den Menschen höflich entgegen und ließ sich streicheln. Anni wuselte und tobte um alle herum, hüpfte aufgeregt auf und nieder und leckte begeistert an allen hingestreckten Händen.
„Wir haben bereits unsere Sachen in die Gästewohnung gebracht. Ihr schlaft in der Garage“, verkündete Susanne.
„Aha“, sagte ich. Das war also beschlossene Sache. Meinetwegen. Dort wird man ja irgendwie schlafen können. Mir war es nicht wichtig genug, um mich darum zu streiten.
„Ihr könnt ja nach der halben Zeit tauschen“, sagte Rüdiger diplomatisch.
„Prima.“ Horst schien es recht zu sein.
„Gut, wir haben auch schon eingekauft. Das Zeug steht in der Küche. Die nutzen wir gemeinsam. Ihr könnt es ja dann wegpacken.“ Susanne hatte sich also um alles gekümmert, besonders um die Organisation. Das schien ihr ein Bedürfnis zu sein.
„Machen wir gerne“, antwortete ich.
Wir brachten unser Gepäck in die Garage, die als Schlafzimmer hergerichtet war, und gingen dann in die Küche. Die Familie war nicht zu sehen.
„Sag mal, wer soll denn das alles essen und trinken?“, fragte ich. „Soll hier demnächst eine Hungersnot ausbrechen?“ Wirklich schaden würde es nicht. Ich grinste in mich hinein.
„Man weiß ja nie, was kommt.“ Horsts Stirn war gerunzelt. Ob seine Schwester ihn jetzt schon stresste? Viel gesagt hatte er nicht. Ich zählte drei Laibe Brot und vier Toastbrote. Fünf Pakete Grillwürstchen und Grillfleisch waren bereits im Kühlschrank. Mehrere eingeschweißte Pakete Wurst, eine große Salami und mindestens ein Kilo Scheibenkäse lagen auf dem Küchentisch sowie ein großer Korb voller Tomaten, Gurken und Zwiebeln. Auch Butter, Kaffee und Milch, Fisch und Taramosalata hatte Susanne eingekauft. Dazu noch schier endlos viele Tüten Chips und Nüsse, Schokolade und verschiedene Schokoriegel. Gegen den Durst gab es jede Menge Bier, Cola und Limonade in Dosen und mehrere Literflaschen Roséwein.
„Warum kauft man keine großen Flaschen, sondern Dosen?“, fragte ich Horst.
„Es macht wahrscheinlich zu viel Mühe, immer ein Glas zu holen, wenn man durstig ist. Mich kannst du mit solchem Blubberlutsch sowieso jagen. Gut, dass wir Rotwein mitgebracht haben.“ Der Rotweinschlauch war in trauter Eintracht mit der Urne in unserem Koffer hierher gereist.
Susanne kam herein, um nach dem Rechten zu sehen. „Schön, ihr habt schon alles gefunden. Die Kosten teilen wir natürlich durch zwei.“
Ich schluckte, sagte aber nichts. Dreiviertel der Lebensmittel würde keiner von uns beiden essen oder trinken wollen. Außerdem waren wir zu zweit, die anderen zu dritt. Darüber würde ich mit Horst sprechen müssen.
Am nächsten Morgen hatte ich schon zeitig den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht, und nun saßen wir alle beim Frühstück. Lukas und David waren bei ihrer zehnten Scheibe Toastbrot, die sie jeweils mit Butter und einer Scheibe Käse belegten. Ich wollte wirklich nicht mitzählen. Mein Hirn addierte trotzdem ohne mein bewusstes Zutun im Geiste die Kalorien: 250 pro Scheibe, eher mehr. Das waren mindestens 2500 Kalorien für ein Frühstück. Durchaus üppig, dachte ich und schaute weiter fasziniert zu, wie die beiden, dicht über ihre Teller gebeugt, die Unterarme mit abgespreizten Ellenbogen auf den Tisch gelegt, weiter mit Appetit aßen. Dabei sahen sie kein einziges Mal auf. Horst musterte sie missbilligend, aber als er den Mund aufmachte, um sich dazu zu äußern, zischte Susanne: „Lass es.“ Also schwieg er gehorsam.
„Kinder, denkt daran, euch Brote zu schmieren. Wir gehen nachher los, und ihr wisst nicht, ob ihr im Dorf etwas bekommt.“
Die Jungen standen gemeinsam auf, holten sich jeder vier weitere Scheiben Toast, belegten sie und packten sie in mitgebrachte Brotdosen. Susanne gab jedem noch eine Tafel Schokolade, und so war sicher gestellt, dass die beiden nicht im Laufe des Vormittags verhungern konnten.
„Packt euren Rucksack und vergesst nicht, genügend zu trinken mitzunehmen.“
Die Jungen holten sich einige Dosen Cola, griffen ihre Smartphones und verließen den Frühstückstisch, den Blick fest auf die Displays geheftet.
„Wir werden nachher Trudes Bekannte aufsuchen, um sie zum Fest einzuladen.“ Susanne hatte die Adressen aller Griechen, die Trude während ihres Aufenthaltes kennengelernt hatte, in einem kleinen Heftchen notiert, auf das sie nun zeigte.
„Super“, antwortete ich. „Horst, dann können wir doch einen Ausflug machen.“
Horst öffnete den Mund, um zu antworten, aber Susanne war schneller. „Ihr kommt selbstverständlich mit.“
„Ach, wirklich?“ Mir blieb der Mund offen stehen. Horst runzelte die Stirn und rollte mit den Augen.
„Natürlich. Ich möchte keineswegs alles allein machen müssen.“
„Du hast doch mit den Jungen sehr nette Gesellschaft“, erwiderte ich, hatte jedoch wenig Hoffnung, dass das nützen würde.
„Wir können dann ja auch das Dorf besichtigen und die Hunde haben etwas Auslauf.“ Horst war auf Frieden bedacht. Na gut, es waren ja seine Mutter, seine Schwester, seine Neffen.
„Die Hunde fänden eine Wanderung über den Berg zum Kloster sicherlich spannender.“ Ich fürchtete, dass dieser Einwand auch nicht helfen würde.
„Dafür ist später noch genug Zeit“, sagte Susanne und stand auf.
Ich gab mich geschlagen. Sie verschwand im Bad, und Horst und ich räumten den Tisch ab. Seufzend spülte ich danach das Geschirr und Horst trocknete schweigend ab. Ich füllte die Fressnäpfe der Hunde und packte für Horst und mich je einen Apfel und eine kleine Flasche Wasser in unseren Rucksack.
Anschließend saßen wir gemeinsam auf der sonnigen Terrasse und blickten auf den leuchtend blauen Golf von Korinth. Horst nahm meine Hand und streichelte sie. „Danke, dass du mitgekommen bist.“
„Ich freue mich, hier zu sein. Ich hoffe, dass ich dir eine Unterstützung sein kann.“
„Das bist du jetzt schon. Ich weiß, dass es nicht leicht für dich sein wird.“
„Keine Sorge, ich werde den Familienfrieden nicht stören. Eine gewisse Weile kann ich das aushalten.“ Ich zwinkerte ihm zu.
„Hoffentlich“, sagte Horst. Es klang aber, als habe er große Zweifel.
Zu fünft zogen wir los, die Hunde liefen unangeleint mit uns, und die beiden großen Jungen bemühten sich, so viel Abstand von uns Erwachsenen zu halten, wie es der Anstand gerade noch erlaubte. Ihre Augen lösten sich keine Sekunde von den Smartphones.
„Sie finden für uns den Weg.“ Susanne hielt es für angebracht, das Sozialverhalten der Söhne zu erklären, obwohl ich kein einziges Wort gesagt hatte.
„Sollten sie dann nicht eher vorausgehen?“, fragte ich. Horst gab mir einen unauffälligen Stups.
„Nein, sie haben von hinten einen besseren Überblick.“ Mutterliebe war etwas Wundervolles. Das eigene Kind wurde dabei mit Klauen und Zähnen sogar verteidigt, wenn kein Angriff stattfand.
„Dann wollen wir mal die Ohren nach hinten spitzen, falls von dort Richtungsanweisungen kommen“, flüsterte ich Horst zu.
„Sie werden schon laut genug sprechen“, sagte Susanne. Mist, sie hatte offenbar ein deutlich besseres Gehör als ich. Ich musste unbedingt aufpassen, wenn ich etwas sagen wollte, was nicht für sie bestimmt war.
„Zunächst besuchen wir Efsthatios mit seiner Familie.“
„Liegt das am Anfang des Rundgangs?“ Meine Frage richtete sich an die Jungen. Ich fand, dass wir sie in die Kommunikation mit einbeziehen sollten.
„Nein“, antwortete Susanne. „Wir fangen von hinten an, dann haben wir es nachher nicht so weit, wenn wir nach Hause gehen.“
Ich ließ mich etwas zurückfallen, so dass ich zwischen David und Lukas schlenderte. Sie bemerkten mich gar nicht, und so konnte ich einen unauffälligen Blick auf ihre Displays werfen. Der eine hatte Whatsapp geöffnet, tippte eifrig mit den Daumen Nachrichten, und der andere war mit irgendeinem bunten Spiel beschäftigt. Dabei bearbeitete er das Display mit seinem enorm beweglichen Daumen, während er eine Tafel Schokolade in der anderen Hand hielt und alle paar Schritte herzhaft davon abbiss. Ich verließ die beiden wieder und gesellte mich zu Horst, der mir einen fragenden Blick zuwarf. Ich wusste ja, dass ich nicht leise genug flüstern konnte und verkniff mir jeden Kommentar. Stattdessen rollte ich nur mit den Augen. Er tätschelte meine Hand.
Dann waren wir, ganz ohne jugendliche Hilfe, am ersten Ziel angelangt.
Eine grauhaarige Frau mit Kittelschürze und Kopftuch öffnete uns die Tür und sah uns erstaunt an. Sie trug abgewetzte Filzpantoffeln und hatte ein großes Küchenmesser in der rechten Hand. „Kalí méra“, sagte sie ohne ein Lächeln. Es war eher eine Frage als ein Gruß.
„Kalí méra“, grüßte Susanne zurück und setzte ihr breitestes Lächeln auf. „Ich bin die Hyia von Trude. Trude thanatos esti.“
„Trude óchi“, sagte die Frau unwillig „Stathi“, schrie sie nach hinten, und ein kleiner kräftiger Mann mit grauen, wild vom Kopf abstehenden Haaren erschien aus den Tiefen des Hauses.
„Ti eínai?“, fragte er.
Ich beobachtete Amalfi, dem das Ganze allmählich zu lange dauerte und der sich, dicht gefolgt von Anni, auf eine Erkundungstour durch das Haus begab. Stathi sah das aus den Augenwinkeln und ließ eine laute Schimpftirade los. Dann rannte er, seine Frau im Schlepptau, hinter den Hunden her. Susanne fand, das sei die beste Gelegenheit, in das fremde Haus einzudringen, machte eine einladende Geste in unsere Richtung und folgte dem Ehepaar in die Küche, die Amalfi mit sicherem Instinkt sofort gefunden hatte. Anni kreiselte um Stathi, der wie ein Storch die Beine abwechselnd anzog, um jede unnötige Berührung mit ihr zu vermeiden.
„Wir sind drin“, sagte Susanne stolz.
„In der Tat“, antwortete Horst. Ich fand kein Mauseloch, in das ich mich hätte verkriechen können, und fing stattdessen die Hunde wieder ein.
„Entschuldigung“, murmelte ich in Richtung unserer unfreiwilligen Gastgeber. Die ergaben sich seufzend in ihr Schicksal und setzten sich auf zwei der Küchenstühle. Susanne nahm das als Einladung und setzte sich, gemeinsam mit den beiden Jungen, auf eine hölzerne Bank. Damit waren alle Sitzgelegenheiten besetzt. Horst und ich blieben also stehen. Der vorwurfsvolle Blick, den Horst den Jungen zuwarf, prallte an ihnen ab, denn sie waren längst wieder mit ihren Handys beschäftigt.
„Eleni“, brüllte Stathi. Ein junges Mädchen erschien und wurde mit einem Wortschwall empfangen.
„Hello, I am Eleni“, sagte sie zu uns. Dem Himmel sei Dank, Englisch.
Susanne erklärte nun, warum wir hier waren, und Eleni übersetzte brav in beide Richtungen. Dann endlich wurde die Mimik freundlicher, und als Susanne geendet und auch die Einladung ausgesprochen hatte, stand Stathi auf, um jeden Einzelnen von uns zu umarmen. „Silipitivia“, sagte er bei jeder Umarmung, „Silipitivia.“
„David, kannst du bitte nachschauen, was Silipitivia heißt?“, bat ich. Eifrig hämmerte er auf seinem Handy herum.
„Beileid“, antwortete er.
Susanne sah ihn stolz an. Der Junge war sehr talentiert, ja geradezu hochbegabt.
Stathi setzte sich wieder und sagte etwas zu Eleni, die sich daraufhin an uns wandte: „Can he bring friend?“
Susanne zögerte einen Moment und sagte dann auf Deutsch: „Nee, besser nicht, sonst werden es zu viele. Ist ja nur für Trudes direkte Bekanntschaften gedacht.“
Stathi stand erneut auf, herzte Susanne voller Inbrunst und bedankte sich mit einem freundlichen „Efcharistó“.
Wir verabschiedeten uns von der Familie, wobei alle gleichzeitig sprachen. Griechisch, Deutsch, Englisch, mir schwirrte der Kopf.
Die Besuche bei Trudes übrigen Bekannten gestalteten sich unkompliziert, da Eleni uns begleitete. Susanne war in ihrem Element und ihre Laune wurde zusehends besser. Horst und ich liefen Hand in Hand hinter ihr her und mischten uns nicht weiter in ihre Planung ein.
Heute wollten wir Trudes letzten Willen erfüllen. Wir saßen alle festlich gekleidet am Frühstückstisch und diskutierten über die Bestattung. Susannes Nachforschung hatte ergeben, dass es nicht möglich war, unseren eigentlichen Plan umzusetzen. Erstens wurden grundsätzlich keine Urnen auf orthodoxen Friedhöfen beerdigt. Und zweitens gab es dort keinen Platz für einen protestantischen Ungläubigen. Keine Ausnahmen.
„Wir können Trude ja nicht gut irgendwo verscharren.“ Da gab ich Susanne Recht. Allerdings ging ich davon aus, dass es auch keine Option war, ihre Asche wieder mit nach Hause zu nehmen.
„Typisch Trude, erst heißt es immer: Bloß keine Umstände, und dann wird alles besonders kompliziert“, sagte Horst.
„Und nun?“, fragte David schmatzend. Er machte sich gerade über sein achtes Stück Toast her. Sein Bruder sah von seinem Berg Rührei auf, schob sich eine volle Gabel in den Mund und sagte, während er mit offenem Mund kaute: „Wollte sie nicht verstreut werden? Das können wir da doch machen. Merkt ja kein Mensch.“
Susanne sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Bist du völlig verrückt geworden? Wenn wir erwischt werden, kriegen wir ein riesiges Problem.“ Ich grinste in mich hinein und sah sie schon in Büßergewand in einer orthodoxen Kirche knien und Rosenkränze beten.
„Wer soll uns erwischen? Ich finde die Idee von Lukas nicht schlecht.“ Horst legte Messer und Gabel nebeneinander auf den Frühstücksteller und sah seine Schwester an.
„Irgendein Friedhofswärter zum Beispiel“, sagte sie.
„Oder ein Pope“, fügte ich hinzu.
Horst zog seine rechte Augenbraue hoch und sah mich an. Eine Geste, die ich liebte. „Der Friedhof liegt mitten in der Einöde. Da ist kein Mensch.“ Ob es ihm gelingen würde, Susanne zu überzeugen? Und was, wenn er es nicht schaffte?
Sie antwortete: „Und genau dann, wenn wir die Urne auspacken, kommt doch jemand.“ Ihre Lider zuckten, und sie trommelte mit den Fingern der rechten Hand einen schnellen Rhythmus auf der Tischkante.
„Ihr könntet sie ja am äußersten Ende des Friedhofes verstreuen, und ich stehe in der Zeit Schmiere. Die Hunde bleiben bei mir. Amalfi ist zwar taub, aber Anni entgeht nichts.“
„Quatsch, Isa, rede doch bitte keinen Unsinn.“ Susannes Stimme überschlug sich, und sie sah mich mit zusammengepressten Lippen an. Ihre Augen waren nur noch Schlitze.
Ich zuckte mit den Schultern. „War nur ein Vorschlag.“
„Isas Vorschlag ist gut.“ Horst tätschelte meine Hand.
„Kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Susanne. Sie seufzte resigniert. „Wir müssen sie wieder mit nach Hause nehmen.“
„Wir? Du meinst sicher Horst und mich.“ Das konnte ich mir nun doch nicht verkneifen.
„Ist doch egal.“
„Ist es nicht“, sagte ich.
Horst schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Mir reicht es. Ich werde Trude auf gar keinen Fall wieder mitnehmen.“ Ich sah ihn überrascht an. Er fuhr fort: „Wir fahren auf den Friedhof und machen es genau so, wie Isa es vorgeschlagen hat.“
Er wartete nicht auf eine Antwort, stand auf, streckte sich kurz und ging ohne ein weiteres Wort in unsere Schlafgarage.
Susanne sah mich bitterböse an. „Na, das hast du ja großartig eingefädelt.“ Ihre Mundwinkel endeten in einer großen Zahl von abwärts gerichteten Falten.
„Ich bin halt ein pragmatischer Mensch. Lösungen sind mir immer lieber als Probleme.“
Sie schnaubte nur und schwieg.
„Du kannst ja hier bleiben und wir erzählen dir dann alles, falls wir nicht verhaftet werden“, schlug ich vor.
Sie würdigte mich weiterhin keiner Antwort, sondern warf ihr Besteck auf den Teller, dass es schepperte. Anni kam herbei und schaute, ob sie helfen könnte. Susanne schob sie weg. „Hau ab.“ Ihre Absätze klackerten bei jedem Schritt, als sie davon stakste.
Die Jungen waren inzwischen fertig mit ihrem Frühstück. Mir schien, dass sie kein Bedürfnis nach der Nähe ihrer schlecht gelaunten Mutter hatten. Vermutlich verschwanden sie deswegen in die entgegengesetzte Richtung, die Augen starr auf ihre Smartphones gerichtet.
„Ratet mal, wer sich wieder ums Abdecken und die Küche kümmern wird?“, sagte ich zu Anni und Amalfi. Beide schauten mich mit schiefgelegtem Kopf an und wedelten mit dem Schwanz. Ich schmierte ein Brot mit Leberwurst, gab jedem ein Stückchen davon und füllte dann ihre Futternäpfe. Anschließend machte ich mich an die Arbeit. Bisher hatte sich Horsts Familie noch nicht wesentlich an den anfallenden Arbeiten beteiligt. Ich glaubte auch nicht, dass sich das noch ändern würde. Er selbst trocknete immerhin gelegentlich ab.
Kaum war ich fertig, erschien Susanne in der winzigen, blitzblanken Küche, holte Brot, Wurst und Käse aus dem Kühlschrank und begann, Butterbrote für die Jungen zu belegen. Ich seufzte und ging Horst suchen.
Der kleine Gottesacker lag sonnenbestrahlt vor uns. Die weißen Gräber waren dicht nebeneinander angeordnet, viele geziert von Fotos der Verblichenen. Auf einigen Steinplatten standen traurige vertrocknete Blumen in angeschlagenen Vasen als Zeichen, dass die Verstorbenen noch nicht vergessen worden waren. Olivenbäume säumten dicht das Gelände. Von hier aus sah man, wenn man nach Norden blickte, in der Ferne das Haus von Rüdiger. Wir folgten im Gänsemarsch einem schmalen Kiesweg, der durch den Friedhof hindurch führte. Susanne hatte sich doch entschieden, die Beisetzung ihrer Mutter nicht zu versäumen und lief nun mühevoll hinter Horst her, der unsere kleine schweigende Trauergesellschaft anführte. Ich bildete mit den Hunden an der Leine die Nachhut. Rüdiger, der direkt vor mir herging, blieb stehen. „Stopp mal alle, ich denke, hier wird es gehen.“
Wir blieben stehen. Er hatte Recht. In der Ferne konnten wir den Golf von Korinth, überspannt von der Brücke von Patras, azurblau schimmern sehen, darüber den wolkenlosen Himmel. Es war ein perfekter Ort.
Horst drückte mir die Urne in die Hand. Ich war überrascht, wie schwer sie war und als ich sie unauffällig schüttelte, hörte ich ein leises Klötern darin. Oh Gott, würden uns Trudes Zähne oder Knochenreste beim Verstreuen der Asche entgegenfliegen?
„Horst, da ist irgendwas in der Urne, das nicht wie Asche klingt.“
„Das kann ja nicht sein.“ Susanne war bleich geworden. „Gib mal her.“ Ich reichte ihr die Urne, sie schüttelte sie leicht, und nun hörten es alle.
„Was ist das?“, fragte Lukas.
„Ich will es gar nicht wissen“, erwiderte David. Das wollte ich auch nicht, aber es war schon ein Unterschied, ob man Asche verstreute oder Knochen und Zähne. Ich hielt trotzdem lieber den Mund. Es war ja nicht meine Mutter.
„Ich schau rein“, sagte Rüdiger. Ich gab ihm die Urne, und er öffnete die Versiegelung. Mit Gruseln wandte ich mich ab. Da half mir auch mein Beruf nicht.
„Alles okay, da ist nur ein Schamottestein mit einer Nummer darauf. Vermutlich, um die Asche eindeutig zu identifizieren. Der Rest ist feines Pulver.“
„Puh.“ Ich hörte geradezu den Stein von Susannes Herz plumpsen.
„Dann werde ich mal an den Friedhofseingang gehen und Wache halten. Holt mich bitte, wenn alles überstanden ist. Ich möchte bei Horsts Ansprache gerne dabei sein.“
„Ist in Ordnung, danke Isa“, sagte Horst.
Ich schlenderte mit beiden Hunden zurück, vorbei an den Grabstätten, und setzte mich außerhalb des Friedhofes vor dem Eingang auf einen großen Stein. Die Hunde ließ ich von der Leine und beobachtete, wie sie die nähere Umgebung erkundeten. Anni raste begeistert um Amalfi herum, der geduldig ertrug, dass sie ihm keine ruhige Minute ließ. Er selbst schnupperte hier und da und hob gelegentlich sein Beinchen. Die beiden entfernten sich nicht weit, und ich hing meinen Gedanken nach.
Horst war mir wirklich ans Herz gewachsen. Er ließ mich an seinem Leben teilhaben, aber nicht an seinen Gefühlen, soweit sie mich betrafen. Ob er uns inzwischen als Paar sah? Ich wusste es nicht und wagte auch nicht, ihn zu fragen. Er hatte in der vergangenen Nacht für das Benehmen seiner Schwester um Entschuldigung gebeten. „Sie ist schon immer so gewesen“, hatte er gesagt. „aber sie ist meine kleine Schwester und sie bedeutet für mich Familie.“ Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, ihn für ihr Verhalten verantwortlich zu machen. Sippenhaft lag mir nicht.
Ein kurzer spitzer Pfeifton sagte mir, dass ich aufhören konnte, Schmiere zu stehen. Ich leinte die Hunde wieder an und eilte zurück zu den anderen.
Horst sprach mit brüchiger Stimme ein paar Worte, und einige Tränen liefen über seine Wangen. Susannes Augen waren ebenfalls feucht, und selbst die Jungen schienen ergriffen zu lauschen. Danach beteten wir gemeinsam ein Vaterunser und sangen So nimm denn meine Hände.
Dann war es vorbei.
„Isa, Kommst du mit zu Polykarpos?“
Ich sah Susanne überrascht an. Wir hatten soeben das Mittagessen beendet. Horst, Lukas und David waren bereits aufgestanden, und wir waren allein. Rüdiger hatte am Vortag beim Wirt der einzigen Gaststätte des Dorfes angekündigt, dass wir dort am kommenden Samstag ein Fest feiern wollten. Aber was hatte ich damit zu tun?
„Erst muss der Tisch abgeräumt und die Küche aufgeklart werden. Wenn du solange wartest, komme ich gerne mit.“
„Das kann ja wirklich mal jemand anderes machen. Es ist doch gar nicht einzusehen, dass dafür immer du herhalten musst“, antwortete Susanne.
Mit dieser Einsicht hatte ich längst nicht mehr gerechnet. „Dann suche ich mal die beiden Jungen, von alleine werden sie sicher nicht auf die Idee kommen“, sagte ich und stand auf.
„Die Jungen haben Ferien. Die müssen sich erholen. Ich werde Horst Bescheid sagen.“ Ich lachte schallend. Susanne sah mich mit großen Augen an und fragte: „Was ist daran so komisch?“
„Ach nichts, geh du mal Horst suchen, ich mache mich fertig, und dann können wir in zehn Minuten los.“ Immerhin würde es auch Horst nicht schaden, sich an der anfallenden Arbeit zu beteiligen. Vielleicht würde es ihm ja sogar gelingen, die Jungen zumindest zum Mitmachen zu motivieren.
Wir gingen einträchtig hinunter ins Dorf. Die Tavérna Polykarpos lag nicht weit vom Ortseingang entfernt. Kalos Orisate stand in grünen Lettern unter dem Namensschild. Die kiesbedeckte Terrasse, die mit bunten künstlichen Blumen und blinkenden Lichterketten geschmückt war, lud mit grün lackierten Holzbänken an rustikalen Tischen zum Sitzen ein. Der Lack blätterte an vielen Stellen, und auch der Anstrich des Hauses war bereits in die Jahre gekommen. Wir gingen hinein, und Polykarpos kam uns mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er war ein kräftiger Mann in den Sechzigern mit von Falten zerfurchtem, wettergegerbtem Gesicht. Seine Augen strahlten mit seinem Mund um die Wette. Er trug eine völlig verdreckte Schürze, und in seinem Mundwinkel hing eine unangezündete Zigarette.
„Filoi mou,“ rief er und umarmte erst Susanne und dann mich. „Kalosórisma.“
„Kalí méra, wir kommen wegen der Feier für Trude“, sagte Susanne. Von Rüdiger wussten wir, dass Polykarpos ein wenig Deutsch sprach. „Hoffentlich genug, um keine Missverständnisse entstehen zu lassen“, hatte ich gesagt, aber Rüdiger hatte uns beruhigt. „Polykarpos ist sehr erfahren im Ausrichten von Festen.“
„Trude pethane. Lypiménon. Ja, machen wir schöne Feier für Mutter. War oft hier mit Rüdiger und Freunde.“
„Also, wir möchten am kommenden Samstag hier mit circa 25 Personen feiern. Es soll ein typisch griechisches Fest werden.“ Susanne war in ihrem Element. Ihre Wangen waren gerötet und sie sprach schnell, als hätte sie Angst, nicht fertig zu werden.
„Typisch griechisch, fysiká, mache ich immer.“ Ich blätterte in meinem kleinen Lexikon, und suchte nach dem unbekannten Wort. Aha, fysiká hieß natürlich. Darauf hätte ich auch selbst kommen können.
„Wichtig ist, dass das Essen nicht in viel Olivenöl ertrinkt. Wir mögen es nicht so fett.“
„Viel Olivenöl? Naí.“ Er sprach es nee aus. Susanne schien beruhigt.
Weiter besprach sie die Menüfolge, allerdings fegte Polykarpos die meisten Gerichte, die sie vorschlug, mit einer Handbewegung vom Tisch.
„Susanne, lass ihn doch einfach machen.“ Vielleicht war es an der Zeit, mich auch einzubringen.
„Auf gar keinen Fall, sonst muss ich fetten Hammel und Paprikaschoten essen. Meine Söhne und ich vertragen Fettes nicht, und von Paprika bekomme ich Ausschlag im Gesicht.“
Polykarpos sah von ihr zu mir. „Fette Hammel für Söhne und viel Paprika?“
„Du liebe Güte, nee“, sagte Susanne.
„Okay, mach ich so, wie du sagst.“
Susanne seufzte erleichtert auf. Sie gab noch einige weitere Anweisungen, und der Wirt hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen.
Dann waren wir fertig, und er fragte zum Schluss: „25 Gäste bringen Freund, naí?“
„Neeeee, das haben wir geklärt“, antwortete Susanne.
Wir brachen unter vielen Sympathiebezeugungen von beiden Seiten wieder auf. Ich hoffte, dass Polykarpos alles richtig verstanden hatte, war da aber lange nicht so sicher wie Susanne.
26
Am Abend des folgenden Samstages machten wir uns gemeinsam auf den Weg zur Taverne. Die Hunde hatten wir zu Hause gelassen, was uns einen missbilligenden Blick von Amalfi und ein trauriges Fiepen von Anni eingetragen hatte.
Horsts Bart war frisch gestutzt. Er trug eine orientalisch anmutende Weste über einem weißen Hemd mit weiten Ärmeln. Seine schwarze Kniebundhose war ihm eindeutig zu eng. Immerhin hatte er sie, wenn auch mit Mühe, zubekommen, nachdem ich noch schnell den Knopf versetzt hatte. „Laufen solche Hosen im Schrank ein?“, hatte er mich gefragt. Ich konnte ihm das aus eigener Erfahrung bestätigen, während er den Reißverschluss meines bunten Sommerkleides ächzend schloss. „Wenn wir zu Hause sind, sollten wir ernsthaft über eine Diät nachdenken“, hatte ich ihm vorgeschlagen. Seine Antwort war nur ein unverständliches Brummen gewesen.
Lukas sah mit Jeans und hellgrünem Hemd, geputzten Schuhen und gewaschenen Haaren ganz manierlich aus. Horst betrachtete missbilligend David. Der hatte sich offenbar für den bequemen Look entschieden und trug eine schlabbrige schwarze Sweathose zu seinen unverzichtbaren Turnschuhen und einen Kapuzenpulli in gleicher Farbe. Seine Haare waren mit viel Pomade streng zurückgekämmt. Nun ja, uns musste das nicht gefallen.
Rüdiger hatte sich mit einer griechischen Tracht geschmückt. Schick sah er aus. Eine schwarze Weste über einem weiten Seidenhemd, dazu eine rote Schärpe, die um seine Hüfte gewunden war, sowie eine schwarze Pumphose. Auf dem Kopf trug er eine rote Kappe mit schwarzem Quast.
Susanne hatte sich für eine antike griechische Tracht entschieden. „Aphrodite“, hatte sie verkündet. Ein lakenähnlicher Stoff war um ihren Körper geschlungen und ließ ihre linke knochige Schulter frei. Das Gewand wurde von einem glitzernden Gürtel und einigen Goldschnallen festgehalten. Ihre Haare schmückte ein mit Strass besetztes Diadem, das einer Prinzessin würdig gewesen wäre.
Ich schaute an mir herab. Zumindest David und Lukas konnte ich toppen. Horst sah meinen Blick und sagte: „Das ist völlig in Ordnung. Du siehst super aus.“
„Na dann. Hauptsache es gefällt dir.“
„Du gefällst mir“, sagte er und küsste mich auf den Mund.
Wir betraten das Polykarpos eine halbe Stunde, bevor das Fest beginnen sollte. „Du lieber Gott“, entfuhr es Susanne. Im großen Gastraum waren elf lange Tische mit jeweils zehn Stühlen festlich geschmückt vor einer Bühne angeordnet, auf der bereits eine Musikkapelle ihre Instrumente abgestellt hatte. Ich sah zwei Bouzoukis, eine Klarinette, eine Lyra und verschiedene Schlaginstrumente. Vor der Bühne war etwas Platz frei. Ich vermutete, dass hier getanzt werden sollte.
Polykarpos kam aus den hinteren Räumen auf uns zu. „Kali méra“, sagte er und fing an, uns der Reihe nach zu umarmen. Als er bei David ankam, stutze er einen Moment. „Du auch hier für Fest?“
„Was ist das hier?“, fragte Susanne dazwischen.
„Typisch griechisch, fysiká“, antwortete er fröhlich.
„Ich hatte keine Musik bestellt.“
„Ohne Musik nix typisch griechisch.“
Horst mischte sich ein: „Das sieht toll aus. Schöne Idee mit der Musik.“ Polykarpos strahlte, und Susannes Gesicht sah aus, als habe sie in eine Zitrone gebissen. „Wenn dir das so gut gefällt, wirst du es sicher auch gern bezahlen“, zischte sie Horst zu, der es vorzog, ihre Bemerkung zu überhören.
Die Musiker erschienen und begrüßten nur Horst mit einem griechischen Redeschwall. „Kali méra“, sagte der nur.
Ich begann mich zu fragen, ob irgendeine von Susannes Anweisungen beim Wirt angekommen war. Sie besah misstrauisch die vielen gedeckten Tische und sagte zu mir: „Hör mal, ich habe doch ganz klar gesagt, dass wir ungefähr 25 Leute sein würden?“
„Ja, aber ob der Wirt das verstanden hat, weiß ich nicht.“
„Offensichtlich ist hier für mindestens 100 Personen gedeckt.“
„Stimmt, das spricht für jede Menge Missverständnisse.“
„Es ist nun, wie es ist“, schaltete sich Horst ein. „Und wenn Trude noch dabei sein könnte, wäre sie sicher begeistert. Irgendwie kommt es mir vor, als hätte sie wie immer und diesmal sogar posthum ihre Vorstellungen durchgesetzt.“
„Dann ist doch alles wunderbar. Schließlich ist das Fest für sie.“ Rüdiger hatte Recht.
Die Musikkapelle übte inzwischen. So hörten wir im Hintergrund griechische Musik, während wir durch die Tischreihen gingen. Susanne zupfte an jedem Blumenstrauß und stellte hier und da etwas um, besah sich die Etiketten der Weinflaschen auf den Tischen und zählte die Ouzo-Flaschen. „22, Himmel“, murmelte sie. Ihre Stimme klang entsetzt. Ich dachte kurz an meine letzte Alkoholorgie bei Horst, an die ich mich ja leider nicht genau erinnern konnte, und nahm mir Zurückhaltung vor.
„Genug Ouzo für dich“, flüsterte Horst mir ins Ohr, und ich gab ihm einen Klaps auf den Hintern. „Auauau“, jammerte er übertrieben laut. Ich zwinkerte Polykarpos zu, der uns erstaunt zugesehen hatte.
Kurz vor acht Uhr sagte Susanne: „Kommt doch mal alle her, ich habe hier einen Ablaufplan für den heutigen Abend zusammengestellt. Horst, was du zu tun hast, haben wir ja schon früher besprochen. Beim Ablauf kannst du natürlich jederzeit noch etwas ändern, aber es ist eigentlich schon perfekt.“ Sie holte einen Zettel aus ihrer Handtasche und begann vorzulesen: „Ankunft der Gäste, Begrüßung durch Horst, Vorspeise, Hauptgang, Dessert. Kurze Ansprache und Dank für das Fest durch Stathi, Musik und Tanz, das musste ich ja noch schnell einbauen, Horst erzählt aus Trudes Leben, gemeinsames Lied zum Abschied, Gäste verlassen das Fest.“ Außerdem hatte sie überall genaue Uhrzeiten festgelegt.
Horst hörte geduldig zu, ohne zu unterbrechen.
Ich sah auf die Uhr. „Also dein erster Punkt klappt schon mal nicht.“
„Wieso nicht?“, fragte Susanne.
„Ankunft der Gäste soll laut Plan von 20 bis 20 Uhr 15 stattfinden. Es ist bereits 20 nach. Horst müsste jetzt mitten in der Begrüßungsrede sein.“
Susanne sah auf die Uhr. „Verdammt, wo bleiben die denn? Jetzt muss ich alles umschreiben.“
Horst kniff mich in den Arm, als ich antworten wollte. „Aua!“
„Pardon, Schnucki.“
Polykarpos schenkte uns jedem ein Glas Ouzo ein. „Gut für Nerven“, sagte er. Susanne konnte das definitiv brauchen. Sie flatterte wie ein kopfloses Huhn hin und her und wurde mit jeder verstrichenen Minute nervöser.
Als wir von draußen ein Gemurmel hörten, war es kurz vor neun, und jetzt kamen, erst vereinzelt, dann zu einem stetigen Strom anschwellend, Menschen herein. Jeder Gast begrüßte uns überschwänglich, und wir erhielten Umarmungen und Küsse von wildfremden Menschen, die etwas wie Silipitivia sagten. Immer wieder fiel Trudes Name. Mehr verstanden wir nicht. Die meisten waren in bunte Trachten gekleidet, und alle schienen bester Stimmung zu sein. Klar, ein kostenloses Dorffest gab es sicher nicht oft. Ich sah Susanne an, die mit sauertöpfischem Lächeln die Begrüßungen über sich ergehen ließ. Ich tätschelte ihren Arm. „Entspann dich, Susanne. Genieße es einfach.“
Sie schüttelte mich ab. „Du hättest mich warnen müssen“, sagte sie. „Wofür sonst hatte ich dich mitgenommen?“
„Ja, das hat mich auch gewundert“, sagte ich und erntete einen Knuff und einen warnenden Blick von Horst. „Psst, Isa, Susanne empfindet das vermutlich als persönliche Niederlage, streu bitte kein Salz in die Wunde.“ Ich seufzte. Wie konnte seine Schwester so frei von Humor sein?
Schließlich hatten alle Gäste einen Platz gefunden und der Wirt, unterstützt von zwei jungen Frauen mit weißen Schürzen, begann, dampfende Schüsseln auf den Tischen zu verteilen. Es duftete verführerisch.
Stathi hatte beschlossen, mit seiner Familie bei uns zu sitzen. Er übernahm es, die Gläser zu füllen. „Stin ygia mas“, sagte er und hob sein Ouzo-Glas in unsere Richtung. „Stin ygia mas “, erwiderte ich und nippte an meinem.
Die Jungen waren nirgendwo zu sehen, und als sie auftauchten, waren nur noch an unserem Nebentisch einige Stühle frei. „Lukas und David müssen hier bei uns sitzen“, sagte Susanne. Horst und ich saßen gut bei Stathi und rührten uns nicht. „Wir können sie doch nicht alleine bei den Griechen sitzen lassen. Also Horst und Isa, geht bitte und tauscht mit ihnen.“ War das ihr Ernst? Wir dachten gar nicht daran, ihrer Anweisung zu folgen. Susanne zog ihre Stirn in senkrechte Falten, stand auf und ging zu den Jungen hinüber an den fast leeren Nebentisch. Ihr Platz wurde sofort von einem massigen Griechen eingenommen, der sich mit Nikoloidos vorstellte.
Plötzlich hörten wir lautes Geschrei. Eine Gruppe alter Weiblein, ganz in schwarz gekleidet, stürmten humpelnd herein. Jammernd und wehklagend durchschritten sie den Festsaal, lamentierten und kreischten an jedem Tisch und verteilten kleine Kästchen, wofür sie von jedem Gast ein paar Münzen erhielten. Als sie bei uns angelangt waren, schwoll das Jammern zum Fortissimo. Horst hielt sich die Ohren zu. Er mochte keinen Lärm. „Was wird das denn jetzt?“, schrie ich in Richtung Rüdiger.
„Das sind die Klageweiber, die gehören zu jedem Trauerfest in Griechenland, sie verteilten Kolyva, eine traditionelle Süßigkeit aus Weizen und Zucker“, schrie er zurück. Die Weiber waren bei Susanne angekommen und reichten ihr ein Döschen, das sie in ihre Handtasche steckte. Als sie keine Anstalten machte, etwas Geld zurückzugeben, zogen sie sie an den Händen hoch und schrien immer wieder: „Lypiménon, Trude, lypiménon“ in ihr Ohr. Dann mäanderten sie, Susanne fest an den Händen haltend, erneut durch die Tischreihen. Polykarpos gab ihnen ein Zeichen und deutete auf Horst. Sofort stürzten sie sich auf ihn, zogen ihn ebenfalls hoch, küssten ihn erst, und dann musste auch er mit. Das Mäandern wurde rhythmisch und aus dem Gekreische wurde Gesang, fast wie ein Tanz mutete es inzwischen an. Ich sah fasziniert zu. Ein weiteres Zeichen von Polykarpos, und die Jungen mussten ebenfalls auf die Mäandertour. Ihre Mienen waren versteinert, als sie wie mechanisch Fuß vor Fuß setzten. Rüdiger grinste mich unverhohlen an, als ich ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstieß. Die Lyra begleitete das einförmige Singen mit leiernden Klängen. Stathi war inzwischen auf seinen Stuhl gestiegen und filmte das Geschehen mit einer modernen kleinen Kamera. Die anderen Gäste klatschten.
Dann war es plötzlich vorbei. Die Weiber verneigten sich vor Susanne und zeigten auf die schöne goldene Halskette, an der ein kleines Amulett mit einem Bild Trudes hing. Eines der Weiber griff danach, fragte. „Trude?“ und zog daran. „Neeee“, wehrte sich Susanne. „Das ist meins, nehmt eure Finger weg.“ Aber die Weiber ließen nicht locker, bis sie das Kettchen von ihrem Hals genestelt hatten. Dann ließen sie von ihr ab und setzten sich zufrieden schnatternd an den Tisch, an dem auch Susanne saß. Die Jungen nutzten die Gelegenheit, sich wieder auf ihre Stühle zu verziehen, und auch Horst kam zu mir zurück. „Gut gemacht“, sagte ich leise zu ihm und er gab mir einen Kuss. Wir beobachteten weiter. Inzwischen hatte Susanne aufgegeben, ihre Kette wieder haben zu wollen, dafür stand aber nun eines der Weiber mit aufgehaltener Hand vor ihr und sagte: „Chrímata, misthos.“ Dabei rieb sie unmissverständlich Daumen und Zeigefinger ihrer anderen arthritischen Hand gegeneinander.
„Was will sie denn von mir?“, rief Susanne Horst zu.
Rüdiger antwortete an seiner Stelle: „Geld natürlich. Die Klageweiber fordern ihren Lohn.“
„Ich will meine Kette zurück.“
„Daraus wird vermutlich nix“, sagte Rüdiger.
Ich stand auf und suchte Polykarpos. „Wieviel Geld gibt man den Weibern? Wir haben keine Ahnung.“
„50 Euro sind angemessen“, antwortete er in erstaunlich fließendem Deutsch.
„Efcharistó.“ Ich holte 50 Euro aus meinem Portemonnaie und drückte sie Susanne in die Hand. Das Weiblein gab Ruhe, sobald sie das Geld hatte, und setzte sich zurück an ihren Platz. Dann fingen alle an zu schwätzen und zu schmatzen. Die Tische bogen sich unter der Last der verschiedenen Speisen, die Polykarpos aufgetragen hatte.
Die Schüsseln wurden herumgereicht. Verschiedene bunte Salate, viel Fleisch in duftenden braunen Soßen, in Olivenöl schwimmendes Gemüse, gegrillte Lammkoteletts, Fleischspieße von unterschiedlicher Länge und Form, Hackfleischbällchen, dunkel gegrillte Würstchen, Fleischfladen, reichlich Geschnetzeltes und noch einige andere Speisen, die ich nicht identifizieren konnte, boten sich uns dar. Alles duftete atemberaubend nach Knoblauch. Rote, grüne und gelbe Paprika waren mit einer Farce aus Hackfleisch gefüllt und leuchteten bunt auf dem Tisch. Der Wirt erschien, bevor wir uns fertig bedient hatten, feierlich mit einem großen Tablett und ging auf Susannes Tisch zu. Ich konnte nicht sehen, was er trug, aber ein Raunen breitete sich im Saal aus, und dann stellte er das Tablett vor Susanne ab. Ihr spitzer Schrei mischte sich mit den begeisterten Rufen der Klageweiber. Ich konnte nur Lukas´ Gesicht sehen. Er war blass geworden. Neugierig stand ich auf, um besser sehen zu können. Horst folgte mir auf dem Fuß. Auf dem Tisch stand, neben all den anderen Köstlichkeiten, das Tablett mit einem gegarten Hammelkopf, der aus leeren Augenhöhlen über den Tisch blickte. Ich stellte mich an Polykarpos´ Seite, der ein kleines Tischfeuerwerk entzündete. „Typisch griechisch, fysiká“, sagte er und seine Augen leuchteten. „Schön fett für Jungen mit Olivenöl extra.“ Er sah Susanne an. „Auch für dich gut. Du nix Frau. Zu dünn.“ Er sah mich an, gab mir einen Klaps auf den Hintern und sagte: „Du gutes Frau. Nix dünn.“
„Danke vielmals“, sagte ich so würdevoll ich konnte und verzieh ihm die ungebetene Intimität. Den Klaps auf den Po gab ich an Horst weiter, da der mich frech angrinste. Ich prustete los. Hinter mir hatten sich inzwischen einige Gäste versammelt, und wenig später lachte der ganze Saal. Susanne tat mir leid. Sie war sprachlos und fühlte sich vermutlich gedemütigt. Aber ich konnte nicht aufhören zu lachen.
Polykarpos zupfte mit einer Gabel ein Stück Fleisch aus den Wangen des armen Hammels und stopfte es sich in den Mund. „Ist sehr gut. Nóstima.“ Das Lachen ebbte ab, und der Wirt zog sich wieder zurück.
„Was heißt Nóstima?“, fragte ich Rüdiger.
„Lecker“, antwortete er und grinste breit.
Susannes Blässe war inzwischen einem zarten Rot gewichen. Lukas und David beschäftigten sich wieder mit ihren Handys, als sei nichts gewesen. Ich tätschelte tröstend Susannes Rücken, aber sie schüttelte mich unwillig ab. „Du bist doch überhaupt an allem Schuld“, fauchte sie. Na, das war ja wohl die Höhe. Bevor ich aber etwas erwidern konnte, sagte Horst: „Lass sie, es lohnt nicht.“ Er hatte Recht, sollte sie sich doch mit ihren Jungen und dem Hammel allein amüsieren. Ich stapfte zu unserem Tisch zurück.
Rüdiger hatte Erbarmen und holte das Hammelkopftablett, nachdem die Klageweiber sich daran bedient hatten. Unsere griechische Gesellschaft fiel sofort gierig darüber her. „Nóstima“, hörte man von allen Seiten. Davon war ich nicht überzeugt, aber als Tierärztin ekelte ich mich nicht vor einem toten Tierkopf. Essen wollte ich ihn allerdings auch nicht.
Die Musik wurde lauter, und einige Gäste klopften den Rhythmus mit ihren Füßen. Einige Männer standen auf und gingen zur Tanzfläche, wo sie zu zweit oder zu dritt in Schulterfassung begannen, sich zur Musik zu bewegen. Ich erkannte kein System in der Schrittfolge, aber das Wiegen und Stampfen der Männer war harmonisch und fröhlich. Rüdiger beugte sich zu mir und erklärte: „Das ist Chasaposervikos. Ursprünglich war das ein Tanz der Metzgergilde.“
„Das passt ja besonders gut zu dem Hammelschädel“, sagte ich.
„Ja, stimmt, und ich nehme an, dass das beabsichtigt ist. Die Griechen haben viel subtilen Humor.“
„Ich finde es witzig“, sagte Horst, der zugehört hatte. Seine Füße standen nicht still.
„Du kannst ruhig hingehen und einfach mitmachen, das freut die Griechen, und du bist sicher willkommen.“ Rüdiger sah Horst an, und der ließ sich das nicht zweimal sagen. Er erhob sich und ging mit wiegenden Schritten zu den Tanzenden, wo er sofort von einer Zweiergruppe in die Mitte genommen wurde. Die anderen Gäste klatschten laut Beifall, einige pfiffen und johlten. Horst passte sich beneidenswert schnell an die Tänzer an, und schon nach kurzer Zeit sah es aus, als hätte er schon immer dazu gehört. Ich selbst konnte zwar tanzen, aber Improvisation lag mir nicht. Frauen schienen aber sowieso nicht gefragt zu sein. Schade, ich hätte gern mit Horst getanzt, aber lieber Walzer oder Discofox oder irgendwas Schönes zum Kuscheln. Immer mehr Männer gesellten sich zu den Tanzenden. Dann begannen sie, sich an den Händen zu fassen und einen großen Kreis zu bilden. Die Musik änderte sich sogleich. Alle liefen in immer schneller werdendem Tempo im Kreis. Ich sah, dass Horst der Schweiß auf der Stirn stand.
Rüdiger war sitzen geblieben und klatschte mit. „Dies ist jetzt ein Zonaradikos“, sagte er zu mir. „Der kommt ursprünglich aus Thrakien.“ Ich hatte keinen Schimmer, wo Thrakien lag, und nahm mir vor, mich später bei Horst zu erkundigen.
„Sag mal“, fragte ich Rüdiger, „was ist hier eigentlich schief gelaufen? Susanne hat wirklich ein anderes Fest bestellt.“
„Ich nehme an, dass ihr in eine uralte Falle getappt seid. Und die hat wieder etwas mit griechischem Humor zu tun.“ Er grinste breit. „Susanne tendiert ja, wie du sicher bemerkt hast, dazu, stets nee zu sagen, wenn sie nein meint.“
„Das stimmt“, sagte ich. „Eine Angewohnheit, die ich nicht sehr schätze. Norddeutscher Slang eben, klingt aber nicht schön.“
Er fuhr fort: „Im Griechischen heißt nee ja. Es wird zwar anders geschrieben, aber klingt genauso. Polykarpos hat also vermutlich jedes Mal, wenn sie etwas mit nee abgelehnt hat, mit Eifer ein Ja gehört.“
Ich gluckste. Mir wurde nun einiges klar, allerdings nahm ich mir vor, dieses Wissen nur mit Horst zu teilen.
Der kehrte schwer atmend an unseren Tisch zurück, nahm eine Serviette und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Augen leuchteten, als er sich zu mir setzte und mir einen Kuss gab. „Das hat Spaß gemacht“, sagte er und schenkte uns Ouzo ein. „Prost! Wenn du Ouzo getrunken hast, bist du noch bezaubernder als sonst“, fügte er hinzu. Da war ich nicht so sicher.
„Du hast richtig gut getanzt. Es war eine Freude, dir zuzusehen. Als hättest du es gelernt.“
„Alles eine Frage der Musikalität.“ Er machte eine Geste, als sei es total einfach, so zu tanzen.
„Ich bin auch musikalisch.“
„Dann sollten wir es gemeinsam versuchen. Lass mich nur einen Moment zu Atem kommen.“
„Klar, hat ja keine Eile.“ Dann erzählte ich ihm von Polykarpos´ Falle, in die Susanne und ich getappt waren.
Sein Gesicht war ein einziges breites Grinsen. „Das sollten wir Susanne lieber nicht erzählen.“
„So weit war ich auch schon. Deswegen konnte ihr Ablaufplan natürlich nichts werden. Schade, dass sie so gar keinen Humor hat.“
„Und schade, dass sie das ihren Jungen offenbar vererbt hat.“
„Och, lass mal die Jungen. Die haben doch hier gar keine Chance, ihren Humor oder andere Qualitäten unter Beweis zu stellen. Lukas finde ich ganz in Ordnung. David fehlt es vor allem an guter Erziehung. Sie sind noch jung, sie können noch dazulernen.“
„Meinetwegen“, sagte Horst. Er nahm mich bei der Hand und stand auf. „Komm.“ Die Musik war ungewohnt, aber rhythmisch, und der 4/4-Takt ließ sich wunderbar tanzen. Inzwischen war die Fläche voll mit Paaren und einzelnen Tänzern. Wir wirbelten durch die Menge, und ich sah aus den Augenwinkeln, dass Nikoloidos sich Susanne geschnappt hatte und sie gekonnt in einem Discofox hin und her schleuderte. Horst wehrte sich gegen meine Versuche, ihn beim Tanzen zu führen, und irgendwann schaffte ich es, mich seiner sanften Führung anzupassen. Dann wechselte die Musik. Die Lyra spielte eine langsame Weise, Horst zog mich fest an sich, ich legte meinen Kopf an seine Schulter, und wir schwebten scheinbar schwerelos durch den Raum. „Ziemlich gut“, flüsterte er, und seine Lippen und sein Atem streiften kurz mein Ohr, so dass ich eine Gänsehaut bekam. Seine Fingerspitzen spielten die Melodie auf meinem Rücken mit. Ich nahm mir vor, mit dem Ouzo noch vorsichtiger zu sein. Was immer die Nacht noch bringen würde, wollte ich auf jeden Fall in Erinnerung behalten.
Susanne kam zu uns und riss mich aus meiner romantischen Stimmung. „Horst, du musst nun deinen Vortrag halten. Es ist Zeit.“
Er blieb stehen und ließ mich los. „Dein Ablaufplan ist sowieso im Eimer. Die Leute sind in einer so guten Stimmung, keiner will jetzt einen Vortrag hören.“
„Das spielt keine Rolle. Geh jetzt auf die Bühne, dann werden sie schon zuhören.“
Horst seufzte. „Na schön, ich werde ein paar Worte sagen. Vielleicht hast du Recht und es gehört sich so.“
Er brachte mich an meinen Platz zurück und ging mit seinem Glas zur Bühne, wo die Musik abrupt aufhörte, als er sich ein Mikrofon griff. Er räusperte sich, und die Gäste gingen schwatzend auf ihre Plätze zurück. Dann kehrte Ruhe ein.
„Liebe Gäste, agapitoí filoí“, begann er. Offenbar wollte er ein paar von den wenigen Brocken Griechisch, die er kannte, in seine Rede einfügen. Die Menge klatschte und trampelte unter lauten Rufen. Polykarpos kam, flüsterte Horst etwas zu, der machte große Augen, nickte aber, und unser Wirt nahm sich ein Mikrofon.
„Trude hat Griechenland und dieses Dorf mit all seinen Bewohnern geliebt.“ Polykarpos übersetzte.
„Sie ist gestorben und hat sich als Abschied dieses Fest gewünscht.“ Lipiménon riefen die Zuhörer, die Klageweiber stimmten ihr Gekreische erneut an, und Horst wartete, bis endlich alle wieder still waren. „Ihr habt ihr diesen Wunsch durch euer Kommen, eure Fröhlichkeit und eure Musik mehr als erfüllt. Dafür danke ich euch ganz herzlich, auch im Namen meiner Familie.“ Das Publikum trampelte und klatschte.
Er sprach noch ein paar Sätze, dankte Polykarpos und Susanne und beendete seine Rede. „Efcharistó, agapitoí filoí.“ Er erhob sein Glas. „Pínoume stin Trude.“ Die Gäste standen auf und erhoben ihre Gläser. Horst verbeugte sich und kam zu mir zurück. Ich küsste ihn. „Gut gemacht, Liebling.“ Er lächelte mich an. „Danke.“
Stathi kletterte nun auf einen Tisch und klopfte mit einem Messer an sein Glas. Das Stimmengemurmel erstarb erneut.
„Tragoudáme mazí Rembetiko“, rief er. Sofort begannen die Musikanten auf ihren Instrumenten eine Melodie zu spielen. Stathi stimmte mit klarer Stimme ein Lied an, und unsere griechischen Gäste fielen ein. Der Raum war erfüllt von dem Chor der Männer und Frauen. Jeder schien dieses Lied zu kennen. Sie schunkelten und sangen und stampften, bis das Lied in einem Crescendo dramatisch endete. Stathi verbeugte sich, stieg wieder vom Tisch, und wir klatschten ausdauernd. „Efcharistó“, bedankte sich Horst, der zu Stathi auf die andere Seite des Tisches gegangen war und umarmte ihn, dabei klopften sich die beiden nach Männerart gegenseitig auf die Schulter. Die Kapelle begann erneut Tanzmusik zu spielen, und die Tanzfläche füllte sich schnell wieder.
Susanne kam an unseren Tisch.
„Jetzt ist es Zeit für unser gemeinsames Lied. Der Mond ist aufgegangen passt, und das kennen wir alle. Komm, Horst, steig auf den Tisch.“
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, sagte er.
„Das passt nun wirklich nicht, Susanne“, sagte ich.
„Warum nicht, und was mischt du dich überhaupt ein?“
„Weil es die gute Stimmung beenden würde“, antwortete Horst an meiner Stelle.
„Ihre vielleicht nicht“, flüsterte ich.
„Das habe ich gehört.“ Susanne sah mich an. Zwischen ihren Augenbrauen wuchs eine steile Falte, und auf ihren Wangen erschienen hektische rote Flecken.
„Kein Lied, vergiss es.“ Horsts Antwort klang ungewöhnlich scharf.
„Aber mein Ablaufplan?“, fragte sie weinerlich.
„Der ist sowieso nicht mehr zu retten. Ich habe die Rede gehalten, nun gib endlich Ruhe.“
„Sie hat einen sehr schlechten Einfluss auf dich.“ Bei diesen Worten deutete sie mit dem Zeigefinger auf mich. „Horst, du bist so ein Weichei“, fuhr sie fort. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und wollte an ihren Tisch zurückgehen, als sie von Nikoloidos aufgehalten wurde. „Chorós“, sagte er, ergriff ihre Hand, zwinkerte mir zu und zog sie aufs Parkett.
„Vielleicht bessert das ihre Laune.“ Horst war da optimistischer als ich.
„Hoffentlich. Es ist ein viel zu schöner Abend, um zu streiten.“
„Das stimmt.“ Wir schauten dem Treiben eine Weile zu. Dann zupfte ich Horst am Ärmel seines Hemdes. „Du schau mal, Susanne.“ Ich zeigte auf die tanzende Menge.
Seine Augen streiften suchend über die Paare, dann hatte er sie gefunden. „Nicht zu glauben“, sagte er. „Der Abend ist sogar für meine Schwester gerettet.“
Susanne und Nikoloidos tanzten eng umschlungen und hatten die Welt um sich herum vergessen. Ihre Arme waren um seinen Hals geschlungen und seine Hände auf ihrem Hinterteil schienen sie nicht zu stören. Ich lachte leise. „Gönn es ihr. Sie hatte heute Abend einen schweren Stand.“
Ich sah Lukas an, der seine Mutter mit offenem Mund betrachtete und seinen Bruder anstieß. Der ließ einen Moment sein Handy aus den Augen und zuckte nur mit der Schulter, bevor er seinen Blick wieder im Display versenkte.
Der Abend blieb laut und fröhlich. Wir tanzten, tranken und schwatzten, bis wir sahen, dass die ersten Gäste aufbrachen. Ich sah auf die Uhr. „Es ist schon drei Uhr durch“, sagte ich zu Horst.
„Tatsächlich?“
„Ja, die letzten Stunden sind verflogen.“
„Das kann man wohl sagen. Und Susanne kann nicht genug von ihrem Kavalier kriegen.“
„Er aber auch nicht von ihr.“ Die beiden waren zwischendurch eine Weile verschwunden gewesen und wiegten sich nun wieder eng umschlungen auf dem Tanzboden. Meine Phantasie schlug Purzelbäume.
Allmählich verließen uns immer mehr unserer griechischen Freunde. Die Klageweiber waren bereits vor Ewigkeiten gegangen. Nun hörte auch die Kapelle auf zu spielen. Die Musiker begannen ihre Instrumente zusammenzuräumen. Polykarpos kam zu uns und fragte fast akzentfrei: „Hat es euch gefallen?“
„Es war ein wundervolles Fest“, antwortete ich, und Horst fügte hinzu: „Danke für alle deine Mühe, das gute Essen und die Stimmung, die du verbreitet hast. Dein Deutsch ist übrigens erstaunlich gut.“
„Ja, natürlich, aber sag es nicht deiner Schwester. Ich habe lange in Deutschland gelebt.“ Er kicherte.
„Wir kommen morgen vorbei und regeln das Finanzielle. Bezahlst du die Musiker und packst es mit auf die Rechnung?“
„Ja, mache ich. Danke, dass ihr hier wart und bis morgen.“
Er umarmte uns und verließ uns schwingenden Schrittes.
„Der Verdienst seines Lebens“, sagte ich.
„Wahrscheinlich, aber das Fest war es wert.“
Die letzten Gäste waren gegangen, nur Nikoloidos saß mit Susanne noch am Tisch. Wir standen auf und gingen hinüber.
„Susanne, wir werden nun gehen“, sagte Horst. Sie sah uns an. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen leuchteten, und das erste Mal, seit ich sie kannte, waren ihre Gesichtszüge weich. Sie sah hübsch aus, und ich konnte Nikoloidos verstehen. „Er kommt mit“, sagte sie. Mir war es recht. Er würde ja nicht in unserer Garage schlafen. Horst sagte nichts dazu. Warum auch. Sie war erwachsen genug, um zu tun, was sie wollte und was ihr gut tat.
Arm in Arm schlenderten wir schweigend zurück zu unserem Domizil. Susanne verabschiedete sich von ihrer Begleitung und folgte dann den beiden Jungen, die bereits in der Gästewohnung verschwunden waren. Ach so, da hatte ich mal wieder zu früh falsche Schlüsse gezogen.
„Komm, lass uns noch eine Runde mit den beiden HUnden gehen“, schlug ich Horst vor.
Wir schlenderten den schmalen Pfad entlang, der vom Haus hinaus zu dem Berg führte, der sich seitlich von uns im Schein des Vollmondes majestätisch erhob. Die Nacht war warm und sternenklar, nur ein paar zirpende Grillen störten die Ruhe.
„Horst, erinnerst du dich noch an unser Gespräch nach dem denkwürdigen Ouzo-Abend? Es ging darum, was ein Paar ausmacht.“
„Natürlich, Paare machen Pläne, unternehmen gemeinsam Dinge, haben einen gemeinsamen Alltag und ein gemeinsames Konzept für die Zukunft.“ Was für eine Frage, selbstverständlich hatte er es noch Wort für Wort im Kopf. Er vergaß ja nichts.
„Nun, ich finde, wir haben schon viele Pläne gemeinsam gemacht, und unsere Wochenenden folgen einem gewissen Alltag. Natürlich unternehmen wir einiges gemeinsam, und wir haben immer viel Spaß.“
„Ja, das stimmt.“ Er runzelte die Stirn.
„Der Sex mit dir ist übrigens auch großartig.“
„Das will ich doch hoffen.“ Er lachte leise.
„Brauchen wir noch ein Konzept für die Zukunft, oder stecken wir schon mitten drin?“
Er streichelte meine Hand.
„Drin stecken finde ich irgendwie gut“, sagte er und grinste.
„Deine Antworten sind immer so klar und unmissverständlich.“
„Wieso, das war doch ein halber Heiratsantrag.“
„Wirklich? Und was machst du, wenn ich ihn annehme?“
„Das wirst du mir doch wohl nicht antun.“
Ich knuffte ihn in die Seite, was ihn wieder zu einem übertriebenen „Auaaaa aua, aua!“ veranlasste. Ein halber Heiratsantrag war besser als gar keiner. Wenn ich weiter bohrte, bestand die Gefahr, dass er die eine Hälfte auch wieder zurücknehmen würde. Die wollte ich lieber behalten, vielleicht würde die andere ja irgendwann hinzukommen. Also griff ich nur nach seiner Hand, und wir gingen schweigend zurück. Die Hunde wuselten um uns herum und verschwanden sofort in der Garage, als wir sie öffneten.
Horst lief in Richtung des Haupthauses, und ich folgte den Hunden. Ich zog mich aus, legte mich ins Bett und wartete auf ihn.
Dann kam er herein. Er war splitternackt. Nur um seinen Hals war ein breites, rotes Geschenkband in Art einer Fliege gebunden. Ich kicherte und zog ihn zu mir ins Bett.
„Ich liebe dich“, sagte ich.
Kommentare
Sehr unterhaltsam
Neuen Kommentar hinzufügen