Der letzte Tag
Heute sterbe ich.
An ihrem vierzehnten Geburtstag ist Melli das klar. Der Gedanke erschreckt sie nicht besonders und sie hat keine Ahnung, warum sie das weiß. Sie ist neugierig, wie das sein wird. Sie wird keine Schmerzen haben, das ist klar. Ob es wohl einen Himmel gibt, in dem alle Kinder zusammen um einen Tisch sitzen und sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen? Sie hat die letzte Chemo hinter sich, die Ärzte sagen, sie verträgt keine weitere. Ihr ist auch endlich nicht mehr übel. Die Übelkeit ist das Schlimmste bei einer Chemo. Damals konnte sie nicht essen und spuckte grüne Galle. Wie viele Chemos waren es insgesamt? Sie weiß es nicht mehr. Auf jeden Fall drei Zyklen, den vierten hat sie nicht mehr komplett geschafft. Sie befühlt die lange Narbe auf ihrem kahlen Kopf. Die ist längst verheilt und nur ein giftigroter Strich ist zu sehen, wenn sie weder Mütze noch Tuch trägt. Nach der Operation hat sie sich die Narbe als Elektrozaun vorgestellt, der das bösartig fauchende Krebstier nicht in ihren Kopf zurück lässt. Aber es kam wieder und wieder auf anderen Wegen zurück. Jetzt, ohne die Chemo, frisst es sich ungebremst durch den ganzen Körper.
Sie lächelt, als die Mutter hereinkommt und die langweilige morgendliche Routine abspult, Melli auf ihrem alten Schreibtischstuhl ins Bad rollt, sie duscht und zärtlich abtrocknet. Zähne putzen kann Melli allein. Manchmal bekommt sie dabei Zahnfleischbluten. Die Mutter freut sich, wenn Melli lächelt. Das weiß sie.
„Was möchtest du heute anziehen?“, fragt ihre Mutter wie jeden Morgen. Sie wird inzwischen nicht mehr in Watte gepackt. Damals, als sie nach endlosen Untersuchungen ihren Hirntumor gefunden haben, fingen alle an, auf Zehenspitzen um sie herumzuschleichen. Es wurde nur geflüstert und alle weinten, wenn sie glaubten, Melli könnte es nicht hören. Sie hörte alles, aber sie war zu klein, um es zu verstehen. Das ist schon so lange her. Mehr als vier Jahre.
Was versteht schon ein neunjähriges Kind von Krebs? Das Wort kannte sie natürlich. Wie naiv sie damals noch war. Du bist krank, dann gehst du zum Arzt und der macht dich wieder gesund. Das stand in ihrem kindlichen Gemüt fest.
Sie erinnert sich schaudernd an die Bestrahlungen. Die Ärzte wollten erst nicht operieren. Der Tumor sei zu groß, sagten sie. Später schnitten sie ihn endlich heraus. Sie stellte sich Krebs schon damals als bösartiges Tier vor, das knurrend und Feuer speiend durch ihren Kopf tobte. Dann kamen die Chemos. Aber er kam immer wieder.
Melli streicht sich mit der mageren Hand erneut über den kahlen Schädel und grinst.
„Was ist lustig?“, fragt die Mutter, „oder freust du dich nur auf deinen Geburtstagskuchen?“
„Ich denke eben daran, wie wichtig mir früher meine langen blonden Haare waren. Erinnerst du dich, wie ich heulte, als ich sie abrasiert habe?“
„Natürlich. Das war schlimm für dich.“
„Ja, seitdem habe ich manchmal Träume..“
„Du träumst vom Haarausfall? Das hast du mir nicht erzählt.“
„Mami, ich bin vierzehn, fast erwachsen. Ich muss dir nicht alles erzählen.“ Erwachsener wird sie nie werden. Aber sie fährt fort. „Im Traum verliere ich nicht Haare, sondern Zähne. Sie fallen heraus, ganz ohne Schmerzen, einer nach dem anderen. Ich kann nichts dagegen tun. Es ist, als ob jeder verschwundene Zahn ein Stück Leben mitnimmt.“
„Das ist ein trauriger Traum.“
„Ja, Mami, aber es dauert nicht mehr lange.“ Es kann nicht schaden, wenn sie ihre Mutter auf das große Ereignis vorbereitet. Die ist stark, viel stärker als Papi, der sofort eine Leidensmiene aufsetzt, wenn er sie ansieht, als ob es ihre Schuld sei, dass sie krank geworden ist. Natürlich denkt er das nicht wirklich, aber Melli hat immer ein schlechtes Gewissen.
„Heute feiern wir erst einmal deinen großen Tag“, sagt ihre Mutter und küsst sie auf den kahlen Schädel.
Melli kichert. „Das kitzelt.“ Sie hat inzwischen ihr Lieblingskleid übergestreift bekommen. Es schlottert ihr um die mageren Beine. Einen winzigen Moment kann sie sogar stehen. Wann ist sie das letzte Mal gelaufen? Sie weiß es nicht mehr, irgendwann vor der letzten Chemo.
„Du siehst wunderschön aus, Melli.“ Die Mutter lügt, das weiß Melli, sie hat im Spiegel einen Blick auf ihren Körper erhascht. Meist wird sie so ins Bad gebracht, dass sie nicht hineinschauen kann. Sie ist nicht blöd und sie weiß genau, was schön ist und was nicht. Sie ist definitiv nicht schön, auch nicht, als sie das grüne Seidentuch, das ihr die Oma geschenkt hat, wie einen Turban um ihren Kopf geschlungen hat. „Die Farbe passt so schön zu deinen grünen Katzenaugen“, hat Oma gesagt.
„Oma hat Recht“, sagt die Mutter, als habe sie ihre Gedanken erraten. Das passiert oft. Sie denkt etwas, und ihre Mutter spricht es aus. Melli hat mal ein Buch über Telepathie gelesen. Vielleicht hat Mami diese Fähigkeit, überlegt sie.
Die Mutter hievt sie schnaufend die Treppe hinunter, setzt sie dort in den kleinen Rollstuhl und schiebt sie ins Esszimmer.
„Happy Birthday to you!“, schallt es ihr vielstimmig entgegen. Sogar das Baby quäkt laut mit. Melli strahlt die Familie an, die komplett am Frühstückstisch versammelt ist. Die Mutter hält ihr die Geburtstagstorte mit den vierzehn brennenden Kerzen hin. „Auspusten“, sagt sie, „und dann musst du dir etwas wünschen.“
Melli pustet und pustet, aber sie hat keine Kraft. Die Mutter hilft. Ob der Wunsch trotzdem in Erfüllung geht? Sie wünscht sich, dass der Tisch im Himmel mit den vielen schwatzenden Kindern auf sie wartet und sie dort ihre Freundin Anna wiedersieht, mit der sie alles bereden kann. Anna ist auch tot. Aber sie spricht den Wunsch nicht aus.
Alle kommen und küssen sie. Sogar Tobi, der mit seinen neun Jahren eigentlich nichts vom Küssen hält.
„Ich hab dich lieb, große Schwester“, flüstert er ihr ins Ohr. Sie weiß, dass ihr Bruder am meisten unter ihrer Krankheit leidet. Viel mehr als sie selbst, glaubt sie. Bald hast du es geschafft, denkt sie und streichelt sein blasses Gesicht. Bald darfst du wieder ein normales Kind sein.
Die Mutter hebt Sophie aus ihrem Babystühlchen und setzt sie ihr auf den Schoß. Melli streichelt das Köpfchen mit dem weichen Flaum darauf, beugt sich vor und riecht daran. „Du riechst so gut nach Baby.“ Sophie grabscht mit ihren kleinen, dicken Fingern in ihr Gesicht und brabbelt gurrende Babywörter.
„Sophie, ich verstehe dich, auch wenn du wirklich eine sehr schlechte Aussprache hast.“ Das Baby gluckst begeistert, als sie ihm ins Gesicht pustet. Sie wird die kleine Schwester nie richtig sprechen hören. Vielleicht kann sie ja aus dem Himmel herunter ihre Familie ein wenig beobachten. Wer weiß, vielleicht gibt es inzwischen himmlische Überwachungskameras.
Papi kommt, küsst und umarmt sie. „Alles Liebe, Kleines.“
„Danke für alles“, sagt Melli und meint nicht den heutigen Tag, sondern ihr ganzes Leben. Tobi wird nicht mehr ständig Rücksicht nehmen müssen. Er hat in seinem kurzen Leben viel zu viel erlebt. Sophie wird sich nicht erinnern, Melli nur durch Erzählungen kennenlernen. Was wird man ihr über sie erzählen?
Nach dem Frühstück ist sie sehr müde. Bald wird die Müdigkeit vorbei sein. Die Mutter trägt sie nach oben, zieht sie aus und hilft ihr wieder ins Bett. Dankbar legt Melli sich hin und schließt lächelnd die Augen. Die Gedanken werden unscharf, als sie einschläft.
Heute sterbe ich
Kommentare
Sehr berührend und mit viel Gefühl geschrieben!
Antwort auf Sehr berührend und mit viel… von Gast (nicht überprüft)
Danke liebe Suse,
Es ist schön, eine Rückmeldung zu bekommen :-)
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