Die Hütte im Wald
Ein gellender Schrei zerriss die Stille im verschneiten Winterwald. Ich fuhr herum, aber ich sah nichts, außer den gespenstischen Schatten der knorrigen alten Eichen. Der Vollmond tauchte Bäume und Sträucher in ein flimmerndes Licht.
Wer hatte geschrien? »Ist da jemand?«, rief ich und erschrak vor meiner eigenen Stimme. Ich lauschte, hörte keine Antwort. Die Schleiereule streifte mich in ihrem lautlosen Flug und hieß mich damit wie jeden Abend willkommen. Ich sah ihr nach, verlor sie aber schon Sekunden später aus den Augen. »Hallo, ist da jemand?«. Es kam keine Antwort. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht.
Ich drehte mich um und setzte nachdenklich meinen Weg fort. Der Wald war mein Zuhause. Ich fürchtete mich nicht. Es war nicht mehr weit, bis zu meiner Hütte. Vater hatte sie vor zwanzig Jahren mit mir zusammen gebaut, und seitdem war sie mein Rückzugsort. Damals war ich ein Teenager, voller Hoffnungen und Träume. Dort bewahrte ich meine Schätze auf, die Fotos von meinem kleinen Bruder, totgeliebte Kuscheltiere, begonnene Tagebücher.
Es gab Gegenstände, die mit mir sprachen – dazu mussten sie von jemandem berührt worden sein. Dann sah ich diesen Menschen vor mir, sprach mit ihm, manchmal konnte ich helfen. Das war schon immer so und ich wollte und konnte es nicht erklären. Dann gab es noch die ›Wesen‹, die mich immer wieder besuchten. Erst viel später begriff ich, dass es die unsteten Seelen Verstorbener waren. Manchmal riefen sie mich und dann folgte ich – und ich traf sie immer in meiner Hütte, wo ich mich sicher fühlte.
Natürlich war es möglich, dass der Schrei von einem ›Wesen‹ gekommen war. Aber das hatte ich noch nie erlebt. Sie näherten sich sonst immer lautlos, wie die Schleiereule, die mich vorhin gestreift hatte und die meine Freundin war.
Ich hatte mein Ziel erreicht. Der Schnee vor der Hütte war bis auf die Spuren einiger Hasen unberührt. Keine Menschenseele war bis hierher vorgedrungen. Zärtlich streichelte ich die grobe Holztür. Ich liebte es, Holz zu berühren, der Maserung und den Astlöchern mit den Fingern zu folgen, zu spüren, dass es lebte.
Der verrostete Riegel leistete keinen Widerstand, als ich ihn beiseiteschob. Es gab hier keine Schlüssel, aber wozu auch. Hier in dem Häuschen bewahrte ich nichts von Wert auf, nichts von Wert für irgendjemanden außer für mich. Sollte ein Wanderer sich irgendwann hierher verirren, wollte ich ihm nicht ein festes Dach über dem Kopf verwehren. Allerdings war das in den zwanzig Jahren auch erst einmal vorgekommen.
Es gab nicht viele Möbel. Ein Bett, einige Wolldecken einen Stuhl und einen Tisch. Dazu einen Kamin, neben den ich Brennholz gestapelt hatte. Ich zündete einige der selbst gezogenen Bienenwachskerzen an und freute mich an dem Duft, der ihnen sogleich entströmte. Dann machte ich Feuer im Kamin, setzte mich im Schneidersitz auf das Bett und begann zu meditieren. Dieser Schrei ließ mir keine Ruhe.
»Wer bist du«, murmelte ich, »zeig dich mir, sonst kann ich nichts für dich tun.«
Ich schloss die Augen und wiegte mich in der Melodie, die nur ich hören konnte.
Zeit verlor ihre Bedeutung. Ich lauschte und konzentrierte mich auf die Antwort, auf die ich hoffte. In meine Melodie mischte sich ein sanfter Klang, kaum wahrnehmbar, nur ein leiser Hauch. Es war da!
Der Ton wurde zu einem Weinen, verzweifelt und hoffnungslos. Meine Gedanken streichelten das ›Wesen‹ und allmählich verklang der jammervolle Ton, wurde zu einer fragenden Schneeflocke, die sich an mich kuschelte. Ich spürte die Kälte und die Traurigkeit und dann erzählte mir das ›Wesen‹ seine Geschichte:
Vor Jahren war ich jung und stark. Ich hatte eine Familie, einen kleinen Sohn namens Timo und eine bezaubernde Tochter namens Sina. Wir hatten einen wunderbaren Hof und ein sorgenfreies Auskommen.
Sina war vierzehn und fing an, ihre eigenen Wege zu gehen. Ich sorgte mich um sie, denn ich hatte gern die Kontrolle und heute weiß ich, ich habe ihr nicht genug vertraut. Ich begann sie zu kontrollieren und immer wieder kam es zum Streit.
Ich führte eine gute Ehe. Zumindest habe ich das geglaubt. Anton stand immer an erster Stelle für mich. Noch weit vor den Kindern. Ich liebte und verwöhnte ihn darum, wo ich nur konnte. Er war ein strenger Vater. Besonders Sina wurde von ihm immer wieder bestraft. Aber denk nicht, dass er sie geschlagen hätte. Nein, Anton war gar nicht gewalttätig. Es war alles viel subtiler.
Eines Tages kam Sina aufgelöst und sehr schüchtern zu mir. Anton war nicht im Haus, sondern bestellte eines der Felder, und ich war an dem Wochenende nicht daheim gewesen. Timo hatte mich wie immer fröhlich begrüßt. Aber was war nur mit Sina los?
»Mama, das kann ich nicht mehr aushalten«, flüsterte Sina.
»Was ist denn los? Wo drückt dich der Schuh?«
»Papa«, sagte sie, sonst nichts.
Das verstand ich nicht, was war mit Anton. Sina druckste herum und ich bemühte mich, geduldig zu bleiben und verständnisvoll. Also sah ich sie nur an, drängte sie nicht und wartete.
»Papa«, wiederholte sie.
»Ist er krank? Sprich doch bitte!«
Tränen rannen über ihr Gesicht. »Er ist heute Nacht zu mir gekommen«, flüsterte sie, »in mein Bett.«
Ich verstand noch immer nicht. Und dann erzählte sie mir stockend, ihr Vater habe sie überall gestreichelt, an den Brüsten und zwischen den Beinen und nicht aufgehört, obwohl sie sich gewehrt habe. Da reichte es mir. Was fiel dem Kind ein, hier so furchtbare Lügen zu erzählen. Ich wollte kein weiteres Wort hören. Anton war zu so etwas nicht fähig, das wusste ich. – Ich habe ihr nicht geglaubt.
Das ›Wesen‹ stieß einen klagenden Laut aus und verschwamm zu einem durchsichtigen Regenschleier. Ich wollte streichelnd trösten und spürte die Not. Wie konnte ich helfen. Was konnte ich ändern? Das alles war ja Vergangenheit, vielleicht schon Jahre her. Das ›Wesen‹ war nicht mehr auf dieser Welt und konnte keine Ruhe finden.
»Was geschah danach«, fragte ich ohne Worte und der Regenschleier löste sich kurz auf. Ich sah ein Augenpaar, groß und dunkel, den Blick in die Ecke des Raumes gerichtet. Dann wurde es immer ferner, bis ich es nicht mehr spürte. Der Zauber war vorbei. Ich konnte es nicht rufen. Nur das ›Wesen‹ hatte die Macht, mich aufzusuchen. Umgekehrt funktionierte es nicht.
Ich erhob mich und lockerte meine verspannten Muskeln, bevor ich in die Ecke ging, die die Augen fixiert hatte. Ich sah den Clown erst auf den zweiten Blick. Er hatte sich hinter einem Eimer versteckt, den ich nach dem letzten Putzen dort vergessen hatte. Es war ein kleiner Clown mit traurigem Gesichtsausdruck. Ich bückte mich und die bekannte Aura überfiel mich ohne Vorwarnung, noch bevor ich ihn berührt hatte. Vorsichtig nahm ich ihn in die Hand, strich zärtlich über seine feine Nase, seine weiß geschminkten Augen spürte in ihn hinein, als er mich zu Sina mitnahm. Ich wusste, dass es Sina war. Ich wusste immer, wer hinter den Gegenständen steckte, die diese Aura in mir auslösten.
Sina nahm Gestalt an, viel deutlicher, als das ›Wesen‹, ihre Mutter. Also lebte sie. Ich wusste nur nicht wo. Ich spürte in sie hinein und sah Trotz und Trauer, Wut und Verzweiflung. Es ging dem Mädchen nicht gut. Wie lange mochte es her sein, dass sie ihre Mutter verloren hatte? Lebte sie bei ihrem Vater, der sie vermutlich missbraucht hatte? Meine Kraft war für heute aufgebraucht. Ich musste morgen Nacht wiederkommen und dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte.
Eiseskälte schlug mir entgegen, als ich die Tür öffnete und in den immer noch nachtschwarzen Wald hinaustrat. Der Mond war inzwischen untergegangen und über Nacht war noch mehr Schnee gefallen. Ich ging langsam und nebelverhangene Morgendämmerung machte meinen Weg allmählich sichtbar und führte mich den bekannten Pfad zurück zu meinem Zuhause. Ich zitterte und fror, aber es kam nicht von der Kälte. Das ›Wesen‹ hatte mich ergriffen und hielt mich umklammert. Es würde nicht loslassen, bis ich Sina gefunden hatte. Das musste jedoch warten. Ich brauchte einige Stunden Schlaf.
Vater wartete mit dem Frühstück auf mich. Er fragte nicht, wo ich gewesen war. Längst kannte er meine nächtlichen Ausflüge. Aber er sah mich doch fragend an, als er den Clown entdeckte, der aus meiner Tasche lugte. »Kann ich dir helfen?«
Ich schüttelte nur den Kopf und senkte ihn über dem süßen Haferbrei, den er gekocht hatte. Trank dazu meinen Kräutertee und schickte einige warme Gedanken an meine Mutter, die sicher gern hier gewesen wäre. Sie war vor Jahren gestorben. Zwei Jahre lang hatte ich gewusst, dass sie starb. Zwei quälende Jahre hatte ich all ihre Ängste und Schmerzen in mir getragen und nur meine Hütte und die ›Wesen‹ hatten mich davor bewahrt, verrückt zu werden. Mutter wurde in einer Urne unter einer Blutbuche beerdigt. Lange hatte ich mich gefürchtet, dass auch sie zu einem ›Wesen‹ werden würde. Das geschah nicht und so wusste ich, dass sie ihren Frieden gefunden hatte. Manchmal, im Frühling, wenn die ersten wärmenden Sonnenstrahlen hervorkamen, ging ich zu der Blutbuche, setzte mich ins feuchte Moos und genoss die wohltuende Nähe der Frau, die mich geboren hatte, sagte ihr, dass ich sie immer vermisste.
Heute war dazu keine Zeit. Ich musste schlafen, neue Kraft tanken und hoffen, dass der Schlaf mir Antworten bringen würde. Ich nahm den Clown mit ins Bett. Er sprach nicht mehr mit mir, und ich schlief auf der Stelle ein.
Ein sanftes sphärisches Singen weckte mich und der Clown in meinem Arm vibrierte. Ich lauschte dem Chor, Sina nahm Gestalt an. Ich hatte an ein junges Mädchen geglaubt, aber hier sah ich ein altes Mütterchen, das verhärmt, mit gebeugtem Rücken ein mageres Essen aus Graupen und Kohl zubereitete.
»Wo bist du?«, fragte ich wortlos.
Sie sah erstaunt auf, hatte mich gehört. Aber sie antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf und arbeitete weiter. Immer wieder schaute sie sich um. Ich hatte Kontakt aufgenommen. Es reichte noch nicht, aber es war ein Beginn. Ich musste auf der Stelle zurück zu meiner Hütte.
Alles war unverändert. Niemand war in mein Reich eingedrungen. Ich entzündete den Kamin, denn der abendliche Frost drohte, durch alle Ritzen zu dringen. Dann kochte ich mir einen Tee aus Kräutern, die ich im Sommer gesammelt und später getrocknet hatte. Meine Mutter hatte mich gelehrt, welche Kräuter den Geist öffneten, welche beruhigten und welche mich wach machten, wenn ich begann, müde zu werden.
Ich machte wieder die Kerzen an, setzte den Clown auf den Tisch und streichelte seinen Kopf, bis er erneut begann zu vibrieren. Es fing mit einem Brummen an und steigerte sich zu einem Grollen wie ein ferner Donner. Schlimme Gedanken lagen in der Atmosphäre und ich ließ sie nahen, obwohl ich mich fürchtete.
Lass mich zu dir kommen, Sina. Sperr mich nicht aus, ich habe eine Botschaft. Das Licht in der Hütte veränderte sich, Regenbogenfarben schmückten die Wände – bald, schon bald.
Sina mühte sich, den Schnee vor ihrer Haustür zu fortzuschieben. Dabei knackten ihre alten Knochen und sie stöhnte das eine und das andere Mal herzzerreißend. Aber sie biss die Zähne zusammen, als müsse sie einen Kampf gewinnen.
Ich berührte sanft ihren Rücken und sie fuhr herum. Leichenblass wurde sie, als sie die Quelle der Berührung nicht entdecken konnte.
»Ich bin da«, flüsterte ich. »Hab keine Angst.« In ihren Augen spiegelte sich Misstrauen und ich fühlte ihre Wut und Enttäuschung. Die Geschichte des ›Wesens‹ war allgegenwärtig. Ich summte lautlos. Sie zuckte mit den Schultern und ging ins Haus zurück, zog Schuhe und Mantel aus und ich folgte ihr in die Stube, wo sie ächzend auf dem Sofa niedersank. Sie erschauerte, als ich mich zu ihr setzte und den Arm um sie legte. Alle Kraft war in meinen wärmenden Gedanken, bis ich spürte, dass sie ruhiger wurde. Sie war bereit.
Ich habe Nachricht von deiner Mutter, summten meine Gedanken und ich ließ sie in Ihren Geist sinken, bis ich spürte, dass sie sich dort niederließen. Sina blieb stumm, die Augen weit aufgerissen, unfähig zu glauben, was sie fühlte. Lass es zu, sang ich. Tränen rannen über ihr Gesicht. Dann übertrug ich die Geschichte des ›Wesens‹, das ihre Mutter war, und sie lauschte ungläubig in sich hinein.
Es tut ihr leid, Sina, sie hat dich im Stich gelassen und dir in deiner Not nicht geholfen. Darum findet sie keine Ruhe. Sie möchte deine Vergebung für das Unrecht, das sie dir angetan hat. Ich wiegte sie in meinen Armen und allmählich wurde sie weicher, die Wut verschwand, aber die Trauer blieb.
»Wer bist du? Wo bist du? Ich sehe dich nicht, aber du bist hier irgendwo.«
Ich holte alle weichen Klänge hervor, derer ich fähig war, damit sie verstand.
»Bist du ein Medium?«, fragte sie.
Ich spürte, wie meine Kräfte mich verließen. Ich konnte nicht mehr lang bleiben. Doch dann kam das ›Wesen‹ und trug mich eine Weile, gab mir noch etwas Energie.
Dein Vater hat deine Mutter zu Tode geprügelt. Da war es zu spät, dir Abbitte zu tun. Sie bereut, Sina, vergib ihr. Der esoterische Klang ließ meine Gedanken in ihre Seele sinken.
Jetzt weinte sie bitterlich. »Ich wusste nicht, dass sie bereut hat. Sie hat es nie gesagt, bis ich sie tot in ihrem Blut liegend gefunden habe. Da hat sie mich ganz allein dem Vater überlassen, der in den Jahren, bis ich erwachsen war, mich weiter gequält und misshandelt hat. Er ist einen unverdient sanften Tod gestorben.«
Sie nahm mich nun deutlicher wahr. Sie öffnete sich und konnte mich sehen. »Du bist so jung, wer bist du?«
Ich muss fort, sang ich, vergib ihr, damit sie Ruhe findet und gehen kann. Ein Sog erfasste mich und ich schlug die Augen auf – sah in das lodernde Feuer des Kamins, und fühlte mich erschöpft. Ich lauschte nach dem ›Wesen‹ und konnte es nicht finden.
Als ich durch den tiefen Schnee nach Hause stapfte, kam eine seltsame Ruhe in mir auf. Ich hatte Sina berührt. Sie würde nachdenken und sie würde vergeben. Und das ›Wesen‹ konnte endlich die Zwischenwelt verlassen, in der es gefangen gewesen war. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Sina ihr folgen würde.
Der Vollmond beschien den verschneiten dunklen Wald und die Schleiereule begleitete mich. Sie zeigte mir lautlos den Weg.
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