Von Pinguinen
Ich kann mich einer gewissen Rührung nicht erwehren, wenn ich antarktische Dokumentationen von Königspinguinen ansehe. Die Küken, die wie überdimensionale, flauschige Ostereier mit Knopfaugen und Schnabel aussehen, entsprechen so sehr dem Kindchenschema, dass sie mich jedes Mal entzücken. Zu Tausenden stehen sie quäkend dicht gedrängt und warten auf die Eltern, die abwechselnd den langen Weg antreten, um wieder ins Meer zu gelangen, wo sie die Fische fangen können. Dann geht es wieder auf kurzen Beinchen zurück zu den hungrigen Küken. Dass sie ihre eigenen Kinder überhaupt wiederfinden, ist mir schon Wunder genug.
Ich sehe die Landschaft an mir vorbeifliegen. Die Klimaanlage rauscht störend, aber sie hält die flimmernde Hitze draußen, die versucht, in das erster Klasse Abteil zu dringen. Der Gedanke an die kalte Antarktis ist bei den fast tropischen Temperaturen erfrischend.
Aber, so frage ich mich, was hat sich der Schöpfer aller Dinge nur gedacht, als er die Königspinguine erschuf und mit der unlösbar scheinenden Aufgabe betraute, endlose Kilometer wandern zu müssen, um die Küken zu versorgen. Das interessiert mich wirklich, denn meiner Ansicht nach ist es egal, ob die Küken viele Kilometer von den Küsten des Südatlantiks entfernt schlüpfen, nachdem der Vater die Eier unter seinem Federkleid ausgebrütet hat, oder ob sie später irgendwo dicht am Meer auf ihre Eltern warten, bis die mit dem gefangenen Fisch zurückkehren, um die Jungen zu füttern. Frieren müssen sie hier wie dort. Immerhin hat der Schöpfer ihnen den Instinkt gegeben, sich in einem riesigen Pulk dicht aneinanderzuschmiegen, wobei sie immer dafür sorgen, dass die Tiere, die im äußeren Kreis frieren, nach einer gewissen Zeit in die wärmende Mitte gelangen. Die Nähe zum Meer hätte große Vorteile. Die Eltern müssten nicht so weit laufen und die Küken darum nicht so lange allein bleiben und auf die Rückkehr warten.
Mir schien das unlogisch. Es ergab nur dann Sinn, wenn die Pinguine in grauer Vorzeit einen schlimmen Fehler gemacht hätten, so dass Gott sie mit diesem Fluch belegt hatte, quasi als Strafe. Andererseits war es natürlich auch möglich, dass Gott sich hier eine kleine Schelmerei erlaubt hatte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob Gott Humor hatte. Natürlich dachte ich immer wieder darüber nach, ob es Gott überhaupt gab. Aber wenn es so war, dann war es sehr wahrscheinlich, dass er auch Humor hatte. Und ich hatte meine Zweifel daran, dass er frei von Boshaftigkeit war. Zu vieles sprach dagegen. Nur ein Sadist konnte Spaß daran haben, einen Vater dazu zu bringen, sein Kind zu misshandeln oder ein Kind elend an Krebs sterben zu lassen. Und doch geschah es täglich. Millionen von Menschen hungern, dursten oder fliehen vor Unrechtsregimen auf der ganzen Welt.
Die Abteiltür öffnete sich und ein junger Mann mit Kippa und kleiner schwarzer Schläfenlocke fragte, ob hier noch frei sei und setzte sich dann lächelnd mir gegenüber an das Fenster. Seine Augen waren fast schwarz und er trug einen sauber gestutzten Bart. Ich mochte Bärte nicht besonders. Mir waren Gesichter lieber, als die Haare darauf. Das Gesicht des Juden war gleichmäßig glatt, sein Kinn eckig und die Wangenknochen hoch. Bis auf den Bart fand ich ihn ganz hübsch, fragte mich aber, was Gott wohl daran gefiel, wenn jemand sich eine derart alberne Locke wachsen ließ. Wie bei den Pinguinen schien mir diese göttliche Weisheit ziemlich sinnlos. Okay, das war jetzt nicht so schlimm für die Juden, wie die weiten Wanderungen für die armen Pinguine. Trotzdem war es mir ein Rätsel. Was machten eigentlich orthodoxe Juden, die eine Glatze hatten. Durften sie dann nicht mehr ins Himmelreich. Nicht dass ich daran glaubte, dass dieser junge Mann dort schon hin wollte, aber was, wenn ihm im fortgeschrittenen Alter die Haare ausfielen. Im Übrigen wusste ich nicht einmal, ob Juden überhaupt in den Himmel kamen. Vielleicht legten sie ja gar keinen Wert darauf. Und war die Locke ein sicheres Zeichen dafür, dass er orthodox war? Oder trugen auch andere Juden diese Locke?
„Kann ich Ihnen helfen“, fragte er.
Ich schreckte aus meinen Gedanken und spürte, wie ich rot wurde. Bestimmt hatte er mich dabei erwischt, wie ich ihn angestarrt hatte. „Ähm, nein, Bitte verzeihen Sie“, sagte ich schnell und dann schwieg ich verlegen.
„Möchten Sie etwas wissen?“ Seine Stimme war dunkel und warm.
Wenn ich ihn rasieren dürfte, würde er an Attraktivität gewinnen. Die Locke dürfte er ruhig behalten. „Ich war gerade so in Gedanken versunken, und irgendwie passte ihr Auftreten genau in meine Gedanken, nahezu perfekt.“
„Verraten Sie mir, was sie gedacht haben, und wieso ich hineingepasst habe?“
„Kennen Sie Königspinguine?“
„Klar, coole Tiere.“
„Ja, das stimmt. Ich habe überlegt, warum Gott sie so erschaffen hat, dass sie diese endlosen Strapazen auf sich nehmen müssen.“ Ich schilderte ihm meine Fragen und Gedanken dazu. Er hörte mit übereinandergeschlagenen Beinen aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Erstaunt bemerkte ich, dass seine Jeans ein Loch hatte.
„Und wie passe ich in diese Gedanken?“
Ich druckste verlegen. Wie sollte ich ihm beichten, dass seine Locke und sein Bart mich inspiriert hatten? „Ach, vielleicht lieber nicht.“ Ich malte mit dem Zeigefinger kleine Kreise auf den aufgeklappten kleinen Tisch vor mir.
Er grinste fröhlich. „Nur zu, ich finde es immer wieder spannend, was verschiedene Menschen sich für Gedanken machen, wenn sie mich seheh. Ich bin vermutlich eine exotische Erscheinung für Sie.“
„Erwischt“, sagte ich beschämt.
„Kein Problem, ich bin stolz auf meine Religion und bin es außerdem gewöhnt, dass man mich anstarrt.“
„Ich verstehe das nicht. Ist Ihre Religion, ich meine nicht das Judentum allgemein, sondern das orthodoxe, nicht irgendwie weltfremd?“
„Warum sollte es weltfremd sein? Außerdem bin ich kein orthodoxer Jude. Wir beten, wir haben feste Regeln, wir lieben, wir lachen. Bis auf das Beten ist das doch genau das, was Sie auch machen, oder?“
„Ja, das stimmt schon. Und ich bete sogar gelegentlich. Naja, nicht so wie Sie, eher so für mich alleine und meistens stelle ich Fragen. Nur dass ich nie Antworten bekomme. Ich dachte, dass die Schläfenlocke für einen orthodoxen Juden spricht. Bekommen Sie Antworten?“
„Manchmal schon, aber ich stelle nicht oft Fragen.“
„Was beten Sie denn dann?“
„Oh, es gibt viele verschiedene Gebete, es gibt Segnungen, eine Art Glaubensbekenntnis, wir bitten um Gnade und um Gesundheit. Genau wie Sie stellen wir Fragen. Es gibt feststehende Gebete, aber wir können auch einfach einen inneren Dialog mit dem Herrn führen.“
„Hört er zu?“
„Selbstverständlich.“
Wir schwiegen beide, während ich versuchte zu verstehen. Er war ungefähr in meinem Alter. Ende zwanzig, schätzte ich. Ob er auch mal feiern ging? Ob er sich verliebte, oder eine Freundin hatte? Wie war es mit tanzen und Sex? „Vielleicht ist es ein Vorurteil, aber ich glaube, dass Ihre strengen religiösen Vorschriften kaum Platz für Spaß und Freizeit lassen.“
„Die vorgeschriebenen Betzeiten, unser Essen, unsere religiösen Rituale schränken uns schon in unserer Zeit ein. Aber wir werden nicht dazu gezwungen und ich persönlich nehme es auch nicht so ernst. Das was wir machen ist uns ein Bedürfnis.“
„Und wenn Sie nun den Bart und die Locke abschneiden würden, was würde dann passieren?“
Jetzt lachte er laut. „Weder die Locke, noch der Bart sind vorgeschrieben. Wenn wir sie abschneiden, dann soll es halachisch richtig gemacht werden. Wir dürfen scheren, aber nicht mit Klingen rasieren.“
„Ach was?“, entfuhr es mir.
„Ja, klar. Nach dem Talmud findet die Schönheit eines Mannes ihren Ausdruck im Bart. Sie sehen, dass wir durchaus auch eitel sind.“
„Wirklich? Kaum zu glauben“, rutschte es mir heraus. Dann machte ich es noch schlimmer, indem ich fortfuhr: „Ich steh nicht besonders auf Bärte und so.“ Ich spürte, wie ich rot wurde. Ich und meine große Klappe.
„Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters.“ Er zwinkerte mir zu und grinste breit.
„Und ein wenig im Auge der Mode. Aber da sind Sie mit dem Bart ganz weit vorn. Mit der Locke aber nicht“
„Die Locke schneide ich gelegentlich auch ab. Mal so mal so. Meine Eltern sind sehr konservativ und freuen sich, wenn ich sie trage. Aber meine Geschwister und ich sind da schon moderner,
Er fixierte mich mit seinen dunklen Augen. Ich versuchte, den Blick zu erwidern und rutschte dabei unruhig in meinem Sitz hin und her. Lange hielt ich ihm nicht stand und betrachtete schließlich meine Hände. Als ich wieder hochsah, sagte ich: „Ich habe so viele Fragen, ich finde so viele religiöse Dinge völlig unlogisch und unverständlich. Ich bin keine besonders gläubige Christin. Ich gehe nie in die Kirche außer zu gelegentlichen Konzerten. Aber ich denke über die Dinge nach, die ich nicht verstehe.“
„Zum Beispiel über Pinguine.“
„Ja, oder auch darüber, warum es Spinnen gibt, die ihren Sexualpartner nach der Befruchtung umbringen. Ist doch irgendwie eine sehr unschöne Erfindung des Schöpfers. Finden Sie nicht?“
„Ja, so kommt es einem vor, aber wir sind zu klein, um alle Wege des Herrn zu verstehen.“
„Die übliche Antwort aller Religionen, wenn man Fragen stellt, die schwierig sind. Glauben Sie, dass ein Unheil, das die Menschen trifft, eine Strafe Gottes ist?“
„In unserer Bibel heißt es bei Mose: Der HERR, der HERR, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und von großer Gnade und Treue, der Gnade bewahrt Tausenden, der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt, der aber nichts ungestraft lässt.“
„Aber dann müsste er doch auch dafür sorgen, dass unschuldige Menschen nicht bestraft werden. Das tut er aber mit Sicherheit nicht. Und außerdem gibt es Verbrecher, die putzmunter und gesund durch die Gegend laufen, und die der Herr nicht mit einer Strafe belegt.“
„Ein ungelöstes Rätsel“, bestätigte er nachdenklich. „Übrigens ist mein Name Levin Goldberg.“
„Ich heiße Maria Lilienthal.“
„Das ist ein jüdischer Nachname mit einem christlichen Vornamen. Ihre Eltern hatten offenbar Humor.“
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